Nachdem das Sanremo-bedingte Schlafdefizit nun wieder aufgeholt ist, gilt es zunächst, das noch fehlende Ergebnis des israelischen Eurovisionsvorentscheids vom vergangenen Samstag nachzureichen. Dort griff man für die Ermittlung des Grand-Prix-Repräsentanten erneut zur Castingshow, nur dass diesmal nicht die im eigenen Land entwickelte Show The Next Star zum Einsatz kam, sondern das britische Format X‑Factor. Die in Israel im vierten Jahr laufende Sendereihe startete bereits Ende Oktober 2021, eine fünfköpfige Jury unter Beteiligung der Eurovisionssiegerin Netta Barzilai sortierte aus einer schier unüberschaubaren Anzahl an Interessent:innen in endlosen Vorrunden vier Teilnehmer:innen für das Semifinale am 3. Februar 2022 aus. Dort gab man ihnen erstmals jeweils zwei potentielle Beiträge für Turin zum Singen, von denen das Publikum und gleich zwei verschiedene Jurys je einen sofort wieder abwählten. Bereits in dieser Abstimmung führte der spätere Siegertitel ‘I.M’ von Michael Ben David das Voting klar an. Dennoch mussten sich alle Vier eine Woche später nochmals duellieren, absurderweise zunächst mit Coverversionen. Wobei die The-Voice-Siegerin Sapir Saban herausflog, ohne dass sie ihre maue Ballade ‘Breaking my own Walls’ vortragen durfte.
Für Figuren wie Michael Ben David hat der schwule Comiczeichner Ralph König mal den Begriff “Dummchen Tausendschön” erfunden (plus Playlist mit allen vier Finalbeiträgen).
In der Schlussrunde standen sich somit Sapirs seinerzeit unterlegener The-Voice-Konkurrent Eli Huli, der besagte Michael Ben David, der sich Wikipedia zufolge bereit im Alter von 16 outete, und Inbal Bibi gegenüber, die schon an der ersten X‑Factor-Staffel teilgenommen hatte. Hier nun entschieden sich die Juror:innen mehrheitlich für Huli und seinen belanglosen, extrem unterenthusiastisch vorgetragenen Midtemposeich ‘Blinded Dreamers’. Das geschmackssichere israelische Publikum hingegen votierte erneut in Scharen für das uptemporäre ‘I.M’ aus der Feder des mehrfachen israelischen Vorentscheidungsteilnehmers Chen Aharoni und sicherte David mit nur einem einzigen Pünktchen Vorsprung den denkbar knappen Sieg. Nun lässt der extrem selbstverliebt wirkende Michael bei seinem Auftritt nicht für eine Sekunde lang einen Zweifel an seiner sexuellen Orientierung aufkommen; von der Teekanne bis zur gebrochenen Hüfte vereint seine bis zum Abwinken campe Choreografie sämtliche nur erdenklichen schwulen Klischees. Und das ist auch gut so: zum einen kann es niemals genug unmissverständlich queere Sichtbarkeit geben. Zum anderen unterhält das optisch auf hohem Level und lenkt so erfolgreich von der bestenfalls mittelmäßigen musikalischen Qualität seines Selbstermächtigungssongs ab. Meinen Anruf hat das im ESC-Finale!
Hübsch: der Tanz der Müllmänner und ‑frauen rund um Eli, der sich offenbar als deutlich zu cool for School empfand.
Vorentscheid IL 2022
HaShir Shelanu L’Eurovizion 2022. Samstag, 5. Februar 2022, aus dem Channel-13-Studio in Tel Aviv, Israel. Vier Teilnehmer:innen. Moderation: Liron Weizman. Televote (50%), fünfköpfige Jury und Expertenjury (je 25%).# | Interpreten | Songtitel | Jury | Televote | Platz |
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01 | Inbal Bibi | Marionette | 086 | 087 | 03 |
02 | Michael Ben David | I. M. | 096 | 118 | 01 |
03 | Eli Huli | Blinded Dreamers | 118 | 095 | 02 |
Letzte Aktualisierung: 09.02.2022
Und? Sehen wir Michael Ben David in Turin im Finale wieder?
- Auf jeden Fall. Das ist schön futtig und macht optisch wie musikalisch gute Laune. (45%, 25 Votes)
- Nope. Dieser selbstverliebte Schönling und sein billiger Song werden zu Recht abschmieren. (45%, 25 Votes)
- Leider nein. Russland und die Ukraine (wo Michaels Eltern herstammen) stimmen im anderen Semi ab. Das wird nicht reichen. (9%, 5 Votes)
Total Voters: 55
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Israelischer Vorentscheid 2023 >
Ich find der Dancesong ist jetzt nix besonderes. Besonders ist aber der Song. Er ist unfassbar charismatisch und charmant. Ich war mir nicht ganz sicher, ob Herr David tatsächlich schwul ist, ich kann diese leicht subtilen Andeutungen in der Performance so schlecht deuten. Danke Oliver für deine Info, das er sich schon mit 16 geoutet hat. Wenn er mit soviel Energie und Lebensfreude in Turin auftritt, dürfte das Finale kein Problem sein.
Ach so, die Voraussetzung “unmissverständlich queere[r] Sichtbarkeit” ist also die Bedienung genau dieses Stereotyps, mit welchem in ein und denselben Topf geschmissen zu werden, ich mir schon seit Jahrzehnten verbitte? Sicher, der Mann soll sich präsentieren wie es ihm gefällt – gar keine Frage!!! Aber was die überbordende Lobpreisung (“[…] vereint seine bis zum Abwinken campe Choreografie sämtliche nur erdenklichen schwulen Klischees. Und das ist auch gut so: […]”) anbelangt: Alte Vorurteile werden wohl durch Vielfalt abgebaut und doch wohl eher nicht, indem die Schrillsten die Fahne am höchsten halten!
@Carsten: ach, seufz. Zur Vielfalt gehört natürlich nicht nur, aber eben auch das Schrille. Ich persönlich lasse mich als Teil der schwulen Community ausgesprochen gerne mit allen möglichen Stereotypen in einen Topf schmeißen, von der Dragqueen über die Ledertrulla, das Bärchen, die Tucke, den Promisken, den Berghaingänger, den schwulen Karnevalsprinzen, den Bürgerlichen und den Schrillen. Die gehören alle zu meiner Familie.
Zumal es seit jeher die Schrillsten, die Lautesten und Auffälligsten sind, die für Sichtbarkeit sorgen, oftmals unter Inkaufnahme persönlicher Nachteile und Anfeindungen aus dem eigenen Lager. Und es ist zu aller erst die Sichtbarkeit, die überhaupt erst einen Dialog ermöglicht, in dem dann “alte Vorurteile” abgebaut werden können. Ohne einen Rosa von Praunheim, der im Fernsehen Hape und Bio geoutet hat, ohne die lauten, bunten Paraden, selbst ohne einen Harald Glööckler würden die meisten Heteros heute noch nicht wahrnehmen, dass es Schwule überhaupt gibt und dass das auch ganz normale Menschen sein können wie Du und ich.
Und der ESC ist eine Fernsehshow, bei der geht es um Unterhaltung. Das Bürgerliche, das Angepasste und das Zurückhaltende sind als persönlicher Lebensentwurf natürlich völlig okay, da zähle ich mich ja selbst auch zu. Aber es ist natürlich nicht unterhaltsam. Muss es ja auch nicht sein. Jeder von uns wird gebraucht, die Fahne hochzuhalten, gerade in Zeiten wie diesen, wo der Wind sich wieder dreht. Im Moment vielleicht noch nicht wieder gegen uns, aber das ist, fürchte ich, nur eine Frage der Zeit. Also ja, halte sie hoch, finde ich super. Nur, wir brauchen alle.
Also falls die Israelis Dummchen Tausendschön nicht wollten weil er zu “schwul” tanzt, seit den NDR Songvorstellungen heute Mittag würde ich ihn liebend, liebend gern als deutschen Vertreter haben wollen!
OK, ist ein Wunschtraum, so doof sind sie nicht
Dann wenigstens die Tanztruppe 😉
Ich liebe das jetzt schon! Genauso geht Eurovision: 3 Minuten beste Unterhaltung. Einziger Wunsch für Turin: Das unvorteilhafte weiße Leder-Outfit bitte vorher auf Ebay verhökern.
Erst habe ich gedacht ob das nicht ein wenig zuviel des schwulen ist. Aber nein, Olli du hast da völlig Recht und ich unterschreibe das zu 100 Prozent. Und in dem Sinne freu ich mich auf seinen Auftritt in Turin.
Stimme Dir völlig zu, Oliver, queere visibility ist immer gut. Die ganze Schwulenrechtsbewegung kam überhaupt erst in Gang, weil DQs in New York auf die Strasse gegangen sind; das waren nicht corporate fags oder die ganzen Schluffis, die heute überall rumlaufen und ihre Rechte als selbstverständlich ansehen. Michael Ben macht das super, der Song ist fun.
PS Wir sind Lederkerle, keine Ledertrullas ;-).