Um mit den Teletubbies zu sprechen: “Noch mal, noch mal”! Nicht nur die Schweiz und die Niederlande übten sich in den Fünfzigerjahren beim Aufstellen ihrer Eurovisionsvertreterinnen im Ewiggleichen, sondern auch die Deutschen. Denn wie bereits im Vorjahr gewann auch 1958 erneut die unverwüstliche Margot Hielscher die heimische Vorauswahl zum Grand Prix, welche diesmal als Kooperation des Hessischen Rundfunks und des WDR in Dortmund stattfand. Die Siegerin hielt sich ebenfalls an bereits Bewährtes und blieb dem Themenkreis der Unterhaltungselektronik treu. Nach dem ‘Telefon, Telefon’ besang sie daher diesmal die Jukebox, den meist in Gaststätten stationierten Vorläufer des MP3-Players (bzw. von Spotify), an welchem es damals ‘Für zwei Groschen Musik’ gab. Bitte? Was ein Groschen ist? Eine Zehn-Pfennig-Münze. Zwei davon musste man in den schrankgroßen, chrom- und glasglänzenden Apparat einwerfen und dann per Tastendruck mechanisch seine Wahl eintippen, damit er eine Single abspielte.
Miss Muziekapparat: Madame Hielscher.
Bitte? Was eine Single ist? Eine kleine Schallplatte mit einem verhältnismäßig großen Loch in der Mitte und nur einem einzigen Musiktitel auf jeder Seite. Bitte? Was eine Schallplatte ist? Ein aus Vinyl (also dem extrem umweltschädlichen PVC) gefertigter Tonträger, der Vorläufer der CD. Bitte? Was eine CD… jetzt ist aber so langsam mal gut! Ich komme mir ja schon vor wie Opa, der vom Krieg erzählt! “Zwei Groschen” stellten jedenfalls den Gegenwert von 20 Pfennigen dar. Das sind in derzeitiger Münze nominal 0,10 € und nach Kaufkraftentwicklung ungefähr 50 Cent (die Währung, nicht der homophobe Hip-Hopper). Jawohl, eine solche Summe war damals zu berappen, bloß für das einmalige Anhören eines einzelnen Musiktitels, ohne jegliche Download- oder Kopiermöglichkeit. Aber welch eine Auswahl bekam man dafür geboten! Ob Swing, Heimatmelodie, Oper, Marsch oder Dixieland: alles, was seinerzeit das musikalische Angebot bereicherte (bis auf den diabolischen Rock ’n’ Roll natürlich), wurde vorgestellt und hinreißend instrumentiert. “Und der Alltag versinkt / wenn froh Musik erklingt”, so thematisierte die Hielscher die wundervolle Eskapismusfunktion des Schlagers: ein durch und durch großartiges Eurovisionslied!
“Maryyyyyy, oh Mary-Ann”: der kraftvolle Männerchor und die Quetschkommode machen den herben Reiz von Lale Andersens Vorentscheidungsbeitrag aus.
Hielschers Eurovisionsbeitrag konnte in den Charts leider nicht reüssieren, und so scheint es schwer vorstellbar, dass das Lied zu Ehren der Jukebox anschließend seinen Weg in die üblicherweise ausschließlich mit aktuellen Top-Hits und Evergreens bestückten Geräte fand. Den zweiten Platz bei dieser Veranstaltung belegte die große Lale Andersen (†1972) mit einem der für sie so typischen Seefahrershantys namens ‘Die Braut der sieben Meere’. Gitta Lind, gebürtige Rita Gracher, die mit dem kariös süßlichen ‘Weißen Holunder’ im Vorjahr ihren größten Hit hatte, steuerte ‘Etwas leise Musik’ bei und wurde damit selbstredend überhört. Nach dem Abebben ihrer Schlagerkarriere betrieb die geschäftstüchtige Dame, wie Wikipedia weiß, zunächst eine Kette von Schnellreinigungen, deren Einnahmen einen Teil des Kapitals für die Gründung einer Showschule in München bildeten, an welcher unter anderem ihr Exmann, der Showmaster Blacky Fuchsberger, unterrichtete. Leider starb Gitta Lind nur kurze Zeit nach der Eröffnung 1974 viel zu früh im Alter von zarten 49 Jahren an Krebs: ausgelöst durch die – wie erst später bekannt wurde – hochtoxischen Reinigungschemikalien?
“Etwas leise Musik, ein paar Worte dazu”: diese zwei doch recht spärlichen Zutaten walzt Frau Lind zwar so breit aus, wie es eben geht, kommt aber dennoch auf nur knapp unter zwei Minuten Laufzeit, bevor ihr die Ideen ausgehen.
Linds Show-Schulen-Kompagnon war einer der erfolgreichsten germanischen Nachkriegs-Schlagerstars, nämlich Fred Bertelmann, der mit dem ‘Lachenden Vagabund’ (der Eindeutschung eines US-amerikanischen Erfolgstitels) kurz zuvor seinen bekanntesten Hit und einen absoluten Millionenseller landete. Im Jahre 1960 brachte er die deutsche Originalaufnahme des britischen Eurovisionsbeitrags ‘Einmal high, high, high’ in die Charts. Bertelmann, Träger des Bundesverdienstkreuzes, der zahllose Hits hatte und in insgesamt 16 Schlagerfilmen mitwirkte, überlebte Lind um ganze vierzig Jahre. Er gehörte ebenso zur popkulturellen Grundausstattung der bundesrepublikanischen Wirtschaftswunderzeit wie der Schweizer Vico Torriani, bekannt für geografiedidaktisch irreführende Schlager wie ‘Kalkutta liegt am Ganges’. Der 1998 verstorbene Künstler überdeckte bei seinen Auftritten stets mit aufgesetzter Heiterkeit die dunklen Erinnerungen seine ausgesprochen unschöne Kindheit als von den armen Eltern zur Zwangsarbeit auf einen Bauernhof weggegebenes Verdingkind, über die er zeitlebens nicht sprach. So, wie ja auch die Deutschen die Aufarbeitung der dunklen Jahre von 1933 bis 1945 am liebsten unter dem Mantel des kollektiven Schweigens erstickten.
Unverzichtbar für den Toast Hawaii: die Ananas aus Caracas (Repertoirebeispiel).
Über die Lieder und Ergebnisse von Bertelmann und Torriani ist, wie bei den restlichen Teilnehmer:innen dieses festlichen Abends in der Kleinen Westfalenhalle, nichts bekannt. Zu ihnen gehörte eine Dame mit dem auf internationaler Bühne sicherlich etwas problematischen Nachnamen Führer (†2012), ihres Zeichens Kabarettistin und Sängerin, die bei den Deutschen Schlagerfestspielen von 1966 mit dem bizarren ‘Gammel-Shake’ für reaktionär-ausgelassene Stimmung im Saal sorgen sollte. Sowie Evelyn Künneke, eine in der Nazi-Zeit und bis Mitte der Fünfzigerjahre recht erfolgreiche Schlagersängerin und Schauspielerin, die Mitte der Siebziger in Filmen der schwulen Regisseure Rainer Werner Fassbinder und Rosa von Praunheim ihr Comeback feierte und im Anschluss praktisch bis zu ihrem Tod im Jahre 2001 als Trash-Mamsell durch Berliner Szene-Clubs tingelte. Allesamt wurden sie von den seinerzeit sechs Landesrundfunkanstalten der ARD nach Dortmund entsandt. Anaïd Iplicjian, die sich im Vorjahr beim “großen” Grand Prix in Frankfurt am Main durch ihre Souveränität so bewährt hatte, moderierte die unter dem Motto “Schlager 1958” (das war damals noch kein Schimpfwort, sondern stand ganz simpel für die Eindeutschung von “Hit”) stehende Show.
Eine frappierend verwirrende Mixtur aus satirisch grundierter Adoration und offener Verächtlichmachung: die Ode der Vorentscheidteilnehmerin Margret Fürer an den deutschen Staatsfeind Nummer Eins der Schaffe-schaffe-Häusle-baue-Wirtschaftswunderzeit, den unproduktiven, langhaarigen, studentischen, protestierenden “Gammler” (Repertoirebeispiel).
Vorentscheid DE 1958
Schlager 1958. Montag, 20. Januar 1958, aus der Kleinen Westfalenhalle in Dortmund. 12 Teilnehmer:innen. Moderation: Anaïd Iplicjian und Kurt A. Jung.# | Interpreten | Songtitel | Platz | Charts |
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01 | Margot Hielscher | Für zwei Groschen Musik | 01 | - |
02 | Erni Bieler | (unbekannt) | n.b. | - |
03 | John Paris | (unbekannt) | n.b. | - |
04 | Fred Bertelmann | (unbekannt) | n.b. | - |
05 | Gitta Lind | Etwas leise Musik | n.b. | - |
06 | Margret Fürer | (unbekannt) | n.b. | - |
07 | Vico Torriani | (unbekannt) | n.b. | - |
08 | Georg Thomalla | (unbekannt) | n.b. | - |
09 | Fred Weyrich | (unbekannt) | nb. | - |
10 | Evelyn Künneke | (unbekannt) | n.b. | - |
11 | Lale Andersen | Die Braut der sieben Meere | 02 | - |
12 | Peter Lorenz | (unbekannt) | n.b. | - |
Letzte Überarbeitung: 08.04.2023