Völlig gleichgültig, in welcher europäischen Metropole der Eurovision Song Contest jeweils stattfindet: stets geht das Sendesignal zunächst in meine heißgeliebte Heimatstadt Frankfurt am Main, von wo aus es der hier residierende Hessische Rundfunk, Hüter des ARD-Sternpunktes, per Satellit an alle (!) angeschlossenen Fernsehstationen verteilt. Diese Funktion als technischer Nabel der Welt mag mit ein entscheidender Grund dafür gewesen sein, dass der Grand Prix anno 1957, also im zweiten Jahr seines Bestehens und ein ganzes Dezennium vor meiner Geburt, in nämlicher Bankenmetropole gastierte. Der andere: die bei der Première freiwillig gastgebende Schweiz hatte 1956 den Bums auch gleich gewonnen, wollte aber kein zweites Mal die Spendierhosen anziehen. Und so traf die (*hüstel*) europäische Chanson-Élite im prachtvollen, damals noch vollständig goldverbrämten Großen Sendesaal des Funkhauses am Dornbusch zusammen. Der trotz seiner Namensgebung in Wahrheit in meinem Stadtteil, dem Nordend, stehende Bau wurde nach Kriegsende ursprünglich als designiertes Domizil für den Deutschen Bundestag errichtet, bevor auf heimtückisches Hintertreiben des Rheinländers und seinerzeitigen Bundeskanzlers Konrad Adenauer (CDU) ein unbedeutendes Kaff namens Bonn absurderweise den Hauptstadt-Zuschlag bekam: einer der frühesten Beispiele für den Filz und die Korruption, mit welchem die Konservativen dieses Land überziehen, wann immer sie die Chance dazu haben. Ich hoffe, man hört die lokalpatriotische Verbitterung nicht all zu deutlich aus meinen Worten heraus?
Zur Punktevergabe brauchen wir den Apparat aber wieder, gelle, Frau Hielscher!
Der deutsche Vorentscheid fand an selbiger geheiligter Stätte quasi bei mir ums Eck statt, integriert allerdings in eine ARD-Unterhaltungsshow mit dem beliebten Showmaster Hans-Joachim “Kuli” Kulenkampff. Aus lediglich vier handverlesenen Finalteilnehmer:innen erwählte die Senderjury Margot Hielscher mit ihrer melancholischen Ballade über eine technische Errungenschaft, über die seinerzeit nur wenige europäische Haushalte verfügten. Die aber beim europäischen Hauptwettbewerb in diesem Jahr erstmals bei der Ermittlung des Ergebnisses eine entscheidende Rolle einnehmen sollte: das ‘Telefon, Telefon’! Hielschers Chanson berichtete aus der Perspektive einer Gesprächsvermittlerin, die tagsüber am Arbeitsplatz beim Fernsprechamt die große weite Welt am Hörer hat, um abends alleine zu Hause vergeblich auf einen Anruf zu warten, der sie aus ihrer Einsamkeit erlöst. Und sie dabei ironischerweise ihren Job gekostet hätte: nach den damaligen sittenstrengen Regeln war ausschließlich ledigen Damen eine Berufstätigkeit gestattet. Heiratete eine Telefonistin, folgte die Entlassung auf dem Fuße, denn schließlich sollte sie sich, so der nahtlos aus der Nazizeit herübergerettete seinerzeitige Common Sense, nunmehr ausschließlich dem Haushalt und dem Kinderkriegen widmen.
Margot Hielscher über die Geschichte des Andrews-Sisters-Hits ‘Bei mir bist Du schön’ (Repertoirebeispiel).
Ebenso nahtlos konnte die allseits beliebte Margot Hielscher, die in den Vierzigern an der Seite von Zarah Leander und Curd Jürgens in etlichen UFA-Unterhaltungsfilmen mitgewirkt hatte, nach dem Ende des Dritten Reichs ihre Schauspiel- und Gesangskarriere fortsetzen. Ab den Sechzigerjahren empfing sie zudem eine Zeitlang als Gastgeberin einer Talkshow im Bayerischen Fernsehen Stars aus aller Welt auf ihrer Plaudercouch. Einem etwas jüngeren TV-Publikum ist sie daneben in der Rolle der stets tadellos gestylten Gräfin in der Achtzigerjahre-Fernsehserie Rivalen der Rennbahn bekannt, also gewissermaßen der deutschen Alexis Carrington Colby. Die Trägerin des Bundesverdienstkreuzes verstarb 2017 im biblischen Alter von 97 Jahren in München. Den Text ihres putzigen Liedes über die zwiespältigen Segnungen der aktuell vor dem allmählichen Aussterben stehenden Kommunikationstechnik (oder kennen Sie jemanden unter 30, der noch einen Festnetzanschluss besitzt?), die in den späten Fünfzigerjahren, ebenso wie das Fernsehen, gerade erst am Beginn ihres Siegeszuges durch deutsche Wohnstuben stand, verfasste übrigens ein gewisser Ralph Maria Siegel.
Im Schlagerfilm ‘Die große Chance’ von 1957 lieh Gisela Bayer alias Renée Franke der hier zu sehenden Schauspielerin Gardy Granass ihre Stimme (Repertoirebeispiel).
Sie ahnen es bereits: es handelte sich hierbei natürlich um den Vater des späteren Mister Grand Prix, welcher erstmals 1972 kompositorisch beim deutschen Vorentscheid in Erscheinung treten sollte und der nach eigener Aussage in einem Interview mit Jan Feddersen einst “als Bub bei der Margot auf dem Schoss gesessen” hatte. Die Welt des Grand Prix ist doch ein Dorf! Eigentlich hätte der Siegel-Senior-Schlager (die Musik komponierte Hielschers Ehemann) thematisch viel besser zu der ebenfalls bei dieser Auswahlrunde angetretenen Renée Franke gepasst, die in den Nachkriegsjahren tatsächlich einige Zeit als Telefonistin in der Fernsprechvermittlung der britischen Militärregierung in Hamburg gearbeitet hatte, während sie parallel ihre Gesangskarriere verfolgte: eine Lebensgeschichte, die sowohl die Vorlage für den Schlagerfilm ‘Das Fräulein vom Amt’ von 1954 lieferte als möglicherweise auch für Frau Hielschers Eurovisionslied. Die im Jahre 2011 verstorbene Frau Franke indes musste sich mit dem (mittlerweile leider im Orkus des Vergessens verschwundenen und auf Youtube unauffindbaren) Schlager ‘Ich brauche Dein Herz’ begnügen. Sowie mit nur halb so vielen Punkten wie ihre Konkurrentin und dem undankbaren zweiten Platz.
Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben: der nachbarsgeplagte Paul Kuhn.
Knapp dahinter landete der 2013 verstorbene Jazzmusiker und Bandleader Paul Kuhn, einem breiteren TV-Publikum unter seinem Kosenamen “Paulchen” vor allem bekannt als Sketchpartner des legendären TV-Entertainers und führenden deutschen Alkoholikers Harald Juhnke. Doch nicht nur als Taktstockschwinger konnte Kuhn Erfolge zeitigen, sondern auch als Schlagersänger. So beispielsweise im Jahre 1963 mit dem karnevalesken (und inhaltlich natürlich längst widerlegten) Stimmungstitel ‘Es gibt kein Bier auf Hawaii’, aber auch mit ‘Jeden Tag, da lieb ich Dich ein kleines bisschen mehr’, einem Duett mit der niederländischen ESC-Repräsentantin von 1961, Greetje Kauffeld. Ich sage ja: die Eurovisionswelt, sie ist ein Dorf! Außerdem trat Paulchen anno 1972 (Sie erinnern sich, das erste Siegel-Jahr) nochmals bei der deutschen Vorentscheidung in Erscheinung: da dann als Dirigent des SFB-Orchesters und kenntnisreich-einfühlsamer Arrangeur der zwölf Wettbewerbstitel, die dank seines professionellen Geschickes live größtenteils lebendiger und prägender klangen als in der jeweiligen Studiofassung.
Ach, Du heißes Fernweh: der Vorentscheidungsschlager von den ‘Mädchen aus Rio’, von dem sogar eine Coverversion in der DDR erschien.
Sein beim Vorentscheid von 1957 vorgetragenes, so amüsantes wie flottes ‘Klavier über mir’ stammte jedoch, sehr deutlich hörbar, aus der Feder des Komponisten Lothar Olias, der schon ‘So geht das jede Nacht’ für Freddy Quinn verfasst hatte. Mit dem sich das deutsche Fernsehen anlässlich der Grand-Prix-Première 1956 bei den europäischen Juroren so unangenehm in die Nesseln gesetzt hatte, wo diese doch frankophile Chansons bevorzugten, aber um Himmels Willen bloß keine, so das Empfinden in tonangebenden konservativen Gesellschaftskreisen, amerikanische Hottentottenmusik! Und obschon die umsatzstärkste Single des Jahres 1957 in Deutschland, der ‘Banana Boat Song’ von Harry Belafonte, genau in diese Rubrik fiel und damit zeigte, dass das Volk geschmacklich deutlich weiter war als seine Führung, wollte man sich seitens der ARD einen solchen Schnitzer auf internationalem Parkett nicht noch einmal erlauben. Daher hatte Der Mann am Klavier bei den alleine abstimmungsberechtigten Juroren (ja, ohne :innen, Frauen traute man damals Entscheidungen von derartig nationaler Tragweite noch nicht zu) das Nachsehen.
Woher hierzulande die Vorurteile über den Muselmanen stammen? Illo Schieders Wettbewerbsbeitrag zu den Deutschen Schlagerfestspielen 1963 erklärt es ein wenig (Repertoirebeispiel).
Genauso übrigens wie das letztplatzierte Lied dieses Vorentscheids, das ausgesprochen possierliche ‘Was machen die Mädchen in Rio’ von Illo Schieder, ihres Zeichens Fabrikantentochter und verhinderte Opernsängerin. Natürlich bestand im gesellschaftspolitisch engen, spießigen Nachkriegsdeutschland ein dankbarer Markt für solche harmlos-exotischen Fernwehschlagerchen, die – gewissermaßen als musikalische Entsprechung des legendären und seinerzeit extrem populären Toast Hawaii – eine ausgesprochen homöopathische Dosis südamerikanischer Lebensfreude in den grauen germanischen Alltag zu transplantieren suchten. Doch als repräsentativer Wettbewerbstitel beim staatstragend inszenierten Nationenwettstreit Grand Prix? Völlig undenkbar! Oder resultierte die Jury-Ablehnung gar aus der etwas fülligeren Figur der Sängerin, welche sie in ihrem 1962er Hit ‘Rund und gesund’ selbst thematisierte? Frau Schieder, die nach ihrem Ausscheiden aus dem Schlagerbusiness zeitweilig Cafés in Benidorm und im Münsterland betrieb, verstarb im Jahre 2004. Womit heute keiner der damaligen Vorentscheidungs-Teilnehmer:innen mehr am Leben ist.
Die erfolgreichste deutschsprachige Hit-Single 1957 in Deutschland war ‘Heimatlos’ von Freddy Quinn, hier als musikalische Untermalung in einem der sehr beliebten Schlagerfilme. Und achten Sie mal drauf, ob Sie erraten können, welche Plattenfirma Freddys Lied verlegte. Kleiner Tipp: der Name reimt sich auf ‘Il pleut de l’Or’ (Repertoirebeispiel)!
Deutsche Vorentscheidung 1957
Zwei auf einem Pferd. Sonntag, 17. Februar 1957, aus dem Großen Sendesaal des Hessischen Rundfunks in Frankfurt am Main. Vier Teilnehmer:innen, Moderation: Hans-Joachim Kulenkampff. Jury.# | Interpret:in | Titel | Jury | Platz | Charts |
---|---|---|---|---|---|
01 | Renée Franke | Ich brauche Dein Herz | 18 | 02 | - |
02 | Illo Schieder | Was machen die Mädchen in Rio | 09 | 04 | - |
03 | Paul Kuhn | Das Klavier über mir | 17 | 03 | - |
04 | Margot Hielscher | Telefon, Telefon | 36 | 01 | - |
Letzte Überarbeitung: 23.09.2022
Illo Schieders Flamenco-Schlager wäre unter den ganzen lahmen Chansons beim ESC 1957 sicher auch positiv aufgefallen. War aber vielleicht doch etwas zu wild für die deutschen Juroren.
Schöner Tipp, ich hab’s eingebaut, danke!