Zugegeben: 1956, als der Eurovision Song Contest zum ersten Mal stattfand, damals im schweizerischen Lugano, weilte ich noch nicht auf diesem Planeten; da war ich noch nicht mal in der Planung. Der erste Grand Prix, den ich mit Sicherheit live (vor dem Fernseher) sah, war der von 1979. Für die Zeit davor kann ich mich nur auf Videoaufzeichnungen stützen, wobei für 1956 allerdings keine solche existiert. Oder wiedergeben, was andere Quellen offenbaren, insbesondere Jan Feddersens kompetente (und sehr empfehlenswerte) Eurovisionsbibel ‘Ein Lied kann eine Brücke sein’ von 2001, die mir ein gutes Stück weit als Inspiration und Grundstock für diesen Blog diente. Doch für das Gründungsjahr des Grand Prix Eurovision de la Chanson stochern auch diese ziemlich im Nebel.
Südamerikanische Rhythmen vor süddeutscher Wirtshauskulisse: die Schlagerfilm-Ikone Margot Hielscher nahm am ersten deutschen Vorentscheid teil (Repertoirebeispiel).
Und so schwebt bis heute ein Fragezeichen über der ersten deutschen Vorentscheidung: zwar sei im Premierenjahr des europäischen Wettbewerbs ein vorgeschaltetes nationales Finale in allen Teilnehmerländern prinzipiell vorgeschrieben gewesen, wie erst im Jahre 2017 ausgegrabene Dokumente aus dem Stadtarchiv von Lugano nahelegen. Folgerichtig verzeichnete die damals führende deutsche Programmzeitschrift HörZu nach den fleißigen Recherchen des NDR-“Grand-Prix-Experten” und taz-Journalisten Feddersen für den 1. Mai 1956 eine solche ARD-Sendung, mit arrivierten Stars dieser Zeit wie den beiden Schlager-Margots (nämlich der Hielscher und der Eskens), dem Quartett Friedel Hensch & die Cyprys (großartige Wirtschaftswunder-Hits: ‘Der Novak’, ‘Egon’, ‘Mein Ideal’, ‘Wenn ich will, stiehlt der Bill’) und anderen. Die sich jedoch, soweit von Jan hierzu befragt, an einen deutschen Vorentscheid in diesem Jahr allesamt nicht erinnern können oder wollen.
Der hier verzehrte Sekt kann sicherlich nicht die einzige Droge sein, die bei der Entstehung dieses Schlagerfilms eine Rolle spielte: Friedel Hensch in der ‘Symphonie in Gold’ (Repertoirebeispiel).

Pragmatisch sieht das der in Wien geborene deutsche Seemann vom Dienst, Freddy Quinn, den die ARD letztlich als einen von zwei Vertretern nach Lugano entsandte. Quinn erinnert sich im Feddersen-Interview zwar auch nicht mehr genau, an einer Vorentscheidung teilgenommen zu haben, meint aber: “Es muss eine stattgefunden haben. Wie hätte es Walter Andreas Schwarz sonst schaffen sollen? Er war vorher nicht bekannt und hinterher hatte er auch keinen Hit”. Das mag ein bisschen herablassend klingen, trifft in der Sache aber zu. Während Plattenmillionär Freddy, der mit dem legendären ‘Heimweh’ den meistgespielten Song des Jahres 1956 landete, es auch mit seinem Eurovisionsbeitrag ‘So geht das jede Nacht’ bis auf Rang 10 der Musikbox-Charts schaffte (der monatlichen Liste der umsatzstärksten Titel der deutschlandweit in Kneipen stationierten Jukeboxen, eine Verkaufshitparade gab es erst ab 1959), wandte sich der 1992 unverheiratet und kinderlos verstorbene W. A. Schwarz nach dem Song Contest dem Hörspiel und dem Kabarett zu: sicherlich eine weise Entscheidung.
Freddy Quinns ‘So geht das jede Nacht’, hier hingebungsvoll interpretiert vom Team Merci Grand Prix.
Bizarrerweise soll laut HörZu auch die schweizerische Grand-Prix-Vertreterin Lys Assia an der deutschen Vorauswahl 1956 teilgenommen haben. Was die betroffene Künstlerin auf Nachfrage durch Jan Feddersen weder bestreiten noch bestätigen wollte, was aber in den wilden Anfangsjahren des europäischen Wettbewerbs durchaus vorkam. Man stelle sich vor, sie hätte sich nicht nur in der Eidgenossenschaft, sondern auch bei uns qualifiziert: wäre sie daraufhin im malerischen Tessin, wo das erste europäische Wettsingen stattfand, gleich für zwei Nationen angetreten? Rein theoretisch durchaus denkbar, denn tatsächlich erließ die Europäische Rundfunkunion (EBU) – die Ausrichterin der mittlerweile heißgeliebten jährlichen Liederfestspiele – erst im Jahre 2003, als es die polnische Band Ich Troje zeitgleich sowohl in der Heimat als auch bei der deutschen Vorentscheidung versuchte, eine verbindliche Regelung, wonach ein:e Künstler:in beim Hauptwettbewerb immer nur ein Land pro Jahrgang repräsentieren darf.
Freddy Quinn mit ‘Heimweh’, dem deutschen Top-Hit des Jahres 1956 (Repertoirebeispiel).
Auf welche Art und Weise die beteiligten Rundfunkanstalten hingegen ihre:n Vertreter:in bestimmen, da mischt sich die EBU bis zum heutigen Tage nicht ein. Ob interne Auswahl, öffentlicher Vorentscheid oder reine Songauswahl bei feststehendem Künstler; ob Jury- oder Zuschauervoting; die (Nicht-)Einhaltung der Drei-Minuten- und der Sechs-Personen-Regel; die Verwendung von Playback-Chorstimmen, die Ausgestaltung der Sendung oder die Nationalität der Komponist:innen und Interpret:innen: all das können die Sender halten, wie immer sie lustig sind. In manchen Ländern hat sich dabei ein über die Jahre gelegentlich sanft angepasstes, aber von der Grundstruktur her unverändertes Format entwickelt (Stichwort: Melodifestivalen), andere nutzen bereits bestehende, traditionelle Festivals (Sanremo, Festivali i Kënges), manche Staaten wie Deutschland hingegen erfinden gerne jedes Jahr das Rad neu. Und genau das macht diese Shows so wunderbar vielfältig und oftmals interessanter als den Hauptwettbewerb selbst!
Und die Gans ruft ga-ga-ga: Im Jahr vor ihrer ersten Vorentscheidungsteilnahme veröffentlichte Margot Eskens unter anderem diese Perle deutscher Dichtkunst (Repertoirebeispiel).
Vorentscheid DE 1956
Grand Prix Eurovision – Schlager & Chansons. Dienstag, 1. Mai 1956, aus dem Großen Sendesaal des NWDR in Köln. Zwölf Teilnehmer:innen, Moderation: Heinz Piper.Interpreten | Songtitel | Ergebnis | Charts |
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Lys Assia | (unbekannt) | x | - |
Rolf Baro | (unbekannt) | x | - |
Eva Busch | (unbekannt) | x | - |
Angèle Durand | (unbekannt) | x | - |
Margot Eskens | (unbekannt) | x | - |
Friedel Hensch & die Cyprys | (unbekannt) | x | - |
Margot Hielscher | (unbekannt) | x | - |
Bibi Johns | (unbekannt) | x | - |
Freddy Quinn | So geht das jede Nacht | Q | 10 |
Walter Andreas Schwarz | Im Wartesaal zum großen Glück | Q | - |
Hans Arno Simon | (unbekannt) | x | - |
Gerhard Wendland | (unbekannt) | x | - |
Letzte Überarbeitung: 21.03.2020
Es mag ja sein, das Lys Assia an der möglichen deutschen Vorendscheidung teilgenommen hat, aber dann eher nicht mit diesem Titel. Nach meinen Recherchen stammt der Titel “Ein kleiner gold’ner Ring” aus dem Jahre 1961 und startete bei den Deutschen Schlagerfestspielen 1961. Dort kam er auf den 3. Platz.
Danke für den Hinweis! Wikipedia bestätigt das, was Du sagst. Ich hab es aus dem Text wieder rausgenommen.