Das 1971 siegreiche Fürstentum Monaco, dank eigener Spielbank finanziell auf Rosen gebettet, lehnte die Austragung des Contests ab: nach offizieller Darstellung wollte Teleradio Monte Carlo den Event mangels geeigneter Halle erst im Juni 1972 im Freien abhalten. Das war den größeren Sendern, allen voran der BBC, zu spät: bis dato lief der Contest meist im März. Eine neue Halle konnte und wollte der Stadtstaat innerhalb weniger Monate aber nicht aus dem knappen Boden stampfen. Wie fast immer bei solchen Gelegenheiten sprang die BBC ein. So kam der Wettbewerb aus der Ehrfurcht einflößenden Usher Hall im schottischen Edinburgh. Die anbetungswürdige Tänzerin und Schauspielerin Moira Shearer (‘Die roten Schuhe’) führte in unnachahmlich britischer Weise, in einer hinreißenden Mischung aus professioneller Strenge, aristokratischer Noblesse und natürlichem Charme durch den aus deutscher Sicht besten Jahrgang der Eurovisionsgeschichte.
Besser geht’s nicht: der ESC 1972 bildet den musikalischen Höhepunkt der Grand-Prix-Geschichte
Bei der Vorentscheidung in Berlin hatte Mary Roos (DE 1984, DVE 1970, 1975, 1982) ihre superbe Ballade ‘Nur die Liebe lässt uns leben’ (#17 in den deutschen Charts), eine der schönsten Liebeshymnen aller Zeiten, noch ziemlich vergeigt. In Edinburgh, wo sie gleich als Erste auf die Bühne musste, legte sie dafür einen um so beeindruckenderen Auftritt hin. “What a confident, relaxed performance” lobte auch der britische Kommentator anschließend, und zwar völlig zu Recht! Mary schien ganz bei sich zu sein: präsent, strahlend, sicher; eins mit sich, der Welt und ihrem Lied. Ihre Darbietung, obwohl im Vergleich zu Berlin im Hinblick auf die Handbewegungen deutlich nachchoreografiert, wirkte völlig unangestrengt, ihre Gesten so beiläufig wie stimmig! Auch optisch wusste sie in einem elegant-legeren, geschickt auf das Rhombenmuster der Bühnendekoration abgestimmten Schachbrettkleid zu überzeugen. Man möchte beim Anblick dieses im Vergleich zu den heutigen Höchstleistungsschautänzen beinahe unspektakulären, aber eine um so atemberaubendere Bühnenpräsenz ausstrahlenden Auftritts einfach nur niederknien. Danke, Mary, für diese drei unsterblichen Minuten!
No Angels (DE 2008): seht her und sterbt vor Scham! (DE)
Gewinnen sollte indes eine andere in Deutschland lebende Sängerin, die gebürtige Griechin Vicky Leandros nämlich, die jedoch (erneut) für Luxemburg antrat. Man könnte ihr ‘Aprés toi’ auch als den zweiten deutschen Beitrag bezeichnen, denn nicht nur die Interpretin, die es ebendort 2006 nochmals beim deutschen Vorentscheid versuchen sollte, kam aus Hamburg, sondern auch der Komponist Klaus Munro, der den Song zusammen mit ihrem Vater schrieb. Vicky hatte ihre kraftvolle, hochdramatische Eurovisionshymne unter dem Titel ‘Dann kamst Du’ zunächst der ARD angeboten, jedoch unter der Bedingung, dass sie sich keiner öffentlichen Konkurrenz stellen müsse. Dem Hessischen Rundfunk lagen aber bereits die Zusagen einer ganzen Reihe von Schlagerstars vor, also ließ man Frau Leandros, die sich mit Mary in Edinburgh die noch von der deutschen Vorentscheidung in bester Erinnerung gebliebenen Rosy Singers als Backgroundchor teilte, ziehen. So sang Vicky eben ‘Aprés toi’ – was ihr wohl ohnehin lieber war, da es auf französisch nun mal edler klingt. Sie erwies sich als sehr würdige Interpretin dieses frankophilen Gefühlssturms.
Vicky Leandros regiert die Eurovisionsbühne (LU)
Mit sparsamen, aristokratischen Gesten und einem stets präsenten, doch irgendwie entrückten Siegerinnenstrahlen lieferte sie, wie Jan Feddersen in seinem Buch so treffend beschreibt, “die Show einer Königin”. Seither bewahrt sich die große Schlagerdiva eine gewisse Hochnäsigkeit als Attitüde, wofür sie ihre hartnäckigen Fans um so mehr verehren. Lustiges Detail: während ‘Aprés toi’ auf dramatische Weise den zerstörerischen seelischen Absturz nach dem Auseinanderbrechen einer Beziehung besingt (“Nach Dir / sind meine Augen feucht, meine Hände leer, mein Herz ohne Freude”), beschreibt die nicht minder fantastische deutsche Version ‘Dann kamst Du’ das allumfassende, hormonvernebelte, euphorische Glücksempfinden zu Beginn einer solchen (“Nun weiß ich, dass das Leben erst schön ist, wirklich schön ist, wenn man sich liebt”). Das höchste Glück und der tiefste Schmerz derselben Liebe, besungen in zwei unterschiedlichen Sprachfassungen des selben Liedes: das muss der guten Vicky erst mal jemand nachmachen!
Vogelfrei ist ihr Herz bis heut: die deutsche Fassung
Nur gerecht, dass sie mit zahlreichen landessprachlichen Einspielungen ihres Titels (selbst eine japanische Version existiert!) die mit 5½ Millionen verkauften Exemplaren weltweit umsatzstärkste Single des Jahres hinlegte: unter anderem reichte es für Rang 11 in den deutschen Charts, #2 in Norwegen und Großbritannien [hier als ‘Come what may’] sowie #1 in der Schweiz, den Niederlanden und Belgien. Nachdem die EBU seit dem Vorjahr zum Zwecke der Modernisierung des Contests erstmals Gruppen (mit maximal sechs Personen, diese Beschränkung gilt noch heute) zuließ, kamen diese nun auch – langsam, aber gewaltig. Zum europaweiten Top-Ten-Hit (#82 USA, #9 BE, #5 DE und CH, #3 NL, #2 UK, #1 NO) wurde die geschickt an den Klangstrukturen der Beatles orientierte Single der vor dem Contest hoch favorisierten, am Ende (mal wieder) zweitplatzierten englischen “Hippiegruppe” New Seekers, ‘Beg, steal or borrow’. Wobei die Briten durch etwas besonders Unhippieskes Weltberühmtheit erlangt hatten, durch den Coca-Cola-Werbesong ‘I’d like to buy the World a Coke’ nämlich, mit dem sie als ‘I’d like to teach the World to sing’ sogar einen Top-Ten-Hit in den USA landeten.
Zuckerbrause saufen für den Weltfrieden: Coca-Cola inszenierte zur Musik der New Seekers ein Sektentreffen der Anhänger der gefährlichsten Religion der Welt, des Kapitalismus
Von ihrem Eurovisionsbeitrag nahmen sie eigens eine phonetisch eingesungene, unglaublich possierliche deutsche Fassung namens ‘Oh, ich will betteln, ich will stehlen’ auf (leihen würde ihnen bei uns niemand etwas, das wussten sie), die aber aufgrund ihrer Grottigkeit in den Regalen liegen blieb und nur unter Trash-Connaisseuren Kultstatus genießt. Auch Österreich schickte mit den Milestones eine Gauklertruppe in extrem körperbetont sitzenden Jeans, die mit dem ebenso lyrisch verspielten (“Dein Flügel zerbricht / Dein Flüstern verspricht / Licht”) wie packend intonierten ‘Falter im Wind’ Europa die Flötentöne beibrachte und mit einem beeindruckenden fünften Platz eine angemessene Entlohnung für ihre außergewöhnlich hübsche Allegorie über die rasche Vergänglichkeit, aber auch gleichzeitige Schönheit des Lebens erfuhr. Nie wieder fand sich der Contest näher am aktuellen musikalischen Zeitgeschehen als in diesem Jahr. Die Frontfrau der Milestones, Beatrix Neundlinger, kehrte 1977 mit den Schmetterlingen zum Contest zurück, im Jahr darauf folgte Norbert Niedermayer (der mit dem sexy Schnauzer) mit der Gruppe Springtime.
Dein Schnauzbart verspricht nichts: die Milestones (AT)
Noch einen Rang besser als unsere südlichen Nachbarn lag der karnevaleske holländische Schunkelschlager ‘Als het um de Liefde gaat’ von Sandra & Andres. Die von einer schwungvoll-bunten Performance mit zahlreichen Kniebeugen und wedelnden Händen unterstützte Nummer mit sehr vielen “Na na na“s feierte auch in Deutschland als ‘Was soll ich tun’ Hitparadenerfolge (#23 sowie #46 für die englische Fassung ‘What do I do’). Die – einschließlich des Nagellacks – komplett in grün auftretenden Sandra Reemer (die noch mehrfach zum Grand Prix zurückkehrte) und Andres Holten (ein erfolgreicher Komponist und Produzent, der unter anderem den Langnese-Werbesong ‘Like Ice in the Sunshine’ schrieb) schnitten unter den insgesamt sechs (!) antretenden singenden Pärchen am besten ab. Und das trotz einer Bühnengarderobe, die aussah wie aus Stoffresten aus der Altkleidersammlung zusammengenäht.
Nehmen’se jrün, det hebt: Sandra Reemer & Andres Holten (NL)
Weitere Vertreter der Hetero-Duo-Gattung waren unter anderem das belgische Ehepaar Serge & Christine Ghisoland, die in ihrem ‘À la Folie ou pas de tout’ auch klassische Musikelemente verarbeiteten und nach ihrem vorletzten Platz beim Contest nicht mehr musikalisch in Erscheinung traten; die sehr stylish aussehenden Finnen Päivi Paunu und Kim Floor (das ist doch mal ein Künstlername, vor allem für einen Mann!), die in ihren schwarz-weißen Spitzkragenanzügen das modische Vorbild für John Travolta in Saturday Night Fever lieferten, deren folkiges ‘Muistathan’ aber keinen bleibenden Eindruck hinterließ; sowie das maltesische Duo (- im echten Leben kein Paar -) Helen & Joseph, das im Gegensatz zu den Finnen mit einem nachgerade unfassbaren Partnerlook, in so etwas wie umgeklöppelten roten Plastik-Schonbezügen für Sofas, entzückte, der sich einfach nur als Gipfel des schlechten Geschmacks beschreiben lässt. Dazu trug der insgesamt ziemlich creepy wirkende Joseph das schlimmste Frisurenverbrechen, das je ein Mensch zu Gesicht bekam. Zur Augen- kam bei ihnen noch die Ohrenfolter, denn das von Platte eher sommerlich schlagerhafte ‘L‑imhabba’ war live schlichtweg dröge und keine Freude.
Ein Vollbart schmückt doch einfach jeden Mann: Carlosch Mendesch (PL)
Beeindruckend hingegen die Auftritte der bereits 1966 für Monaco angetretenen Tereza Kesovija aus Jugoslawien (ihr hymnisches ‘Muzika i ti’ verlor sich zwischen den beiden deutschen Liebesdramen und landete abgeschlagen auf Rang 9) und der vollbärtigen Augenweide Carlos Mendes aus Portugal (ebenfalls ein Wiederholungstäter), beide stimmsicher und kontrolliert leidenschaftlich im Vortrag. Ihre Songs waren, wenn auch nicht eingängig genug, um richtig punkten zu können, von überdurchschnittlicher Qualität. Herrn Mendes’ für portugiesische Verhältnisse geradezu überschäumenden ‘Feier des Lebens’ wird zudem eine unterschwellige, aber wirkungsvolle Kritik an der damaligen Diktatur in seinem Heimatland zugeschrieben, was ich aber mangels Portugiesischkenntnissen nicht beurteilen kann. Sehr hübsch auch die schwedischen Abba-Vorläufer Family Four (SE 1971) und ihr fröhliches ‘Härliga Sommardag’: da ist wohl keine Übersetzung notwendig. Nur das bleiche, aber wahrnehmbare Leuchten des rechten Unterschenkels der blonden Frontfrau irritierte etwas: trug die eine Beinprothese? Auch der italienische Beitrag ‘I Giorni dell’ Arcobaleno’ litt stark unter der Optik des ein wenig an den Microsoft-Gründer Bill Gates erinnernden Sängers und San-Remo-Siegers Nicola di Bari.
Tralla en trall: die Familie Vier (SE)
Das zeitlich gestraffte Stimmauszählungsverfahren, bei dem immer drei Länderjurys mit je zwei Juroren gleichzeitig abstimmten, erwies sich für den Zuschauer als verwirrend. Glücklicherweise hatte die großartige Moira Shearer in ihrem futuristischen Fernsehsessel die Sache im Griff, auch wenn sie in ihrer kobaltblauen Bluse aussah wie eine sprechende Teekanne. Das Saalpublikum zeigte sich etwas enttäuscht, dass nicht die heimischen New Seekers gewannen, spendete aber einen fairen Applaus für die Siegerreprise der sensationellen Vicky Leandros, deren königlicher Ausstrahlung auch der Lippenstiftfleck nichts anhaben konnte, den ihr die Preisüberbringerin und Vorjahressiegerin Séverine auf die Wange geschmatzt hatte. Lässt man noch mal Revue passieren, welche großartigen Schlager (‘Geh die Straße’, ‘Gute Nacht, Freunde’) bei der Vorentscheidung scheiterten und dass mit Vicky und Mary zwei der besten deutschen Sängerinnen hier echte Jahrhundertperformances ablieferten, muss man wohl konstatieren: 1972 war der Spitzenjahrgang der deutschen Popmusikgeschichte!
Eurovision Song Contest 1972
Eurovision Song Contest. Samstag, 25. März 1972, aus der Usher Hall in Edinburgh, Großbritannien. 18 Teilnehmerländer, Moderation: Moira Shearer.# | Land | Interpret | Titel | Punkte | Platz |
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01 | DE | Mary Roos | Nur die Liebe lässt uns leben | 107 | 03 |
02 | FR | Betty Mars | Comé Comédie | 081 | 11 |
03 | IE | Sandie Jones | Ceol an Ghrá | 072 | 15 |
04 | ES | Jaime Morey | Amanece | 083 | 10 |
05 | UK | New Seekers | Beg, steal or borrow | 114 | 02 |
06 | NO | Grethe Kausland + Benny Borg | Småting | 073 | 14 |
07 | PT | Carlos Mendes | A Festa da Vida | 090 | 07 |
08 | CH | Véronique Muller | C’est la Chanson de mon Amour | 088 | 08 |
09 | MT | Helen & Joseph | L‑Imhabba | 048 | 18 |
10 | FI | Päivi Paunu + Kim Floor | Muistathan | 078 | 12 |
11 | AT | Milestones | Falter im Wind | 100 | 05 |
12 | IT | Nicola di Bari | I Giorni dell’ Arcobaleno | 092 | 06 |
13 | YU | Tereza Kesovija | Muzika i ti | 087 | 09 |
14 | SE | Family Four | Härliga Sommardag | 075 | 13 |
15 | MC | Anne-Marie Godart + Peter MacLane | Comme on s’aime | 065 | 16 |
16 | BE | Serge + Christine Ghisoland | À la Folie ou pas de tout | 056 | 17 |
17 | LU | Vicky Leandros | Aprés toi | 128 | 01 |
18 | NL | Sandra & Andes | Als het um de Liefde gaat | 106 | 04 |
Da geb ich “Tralla en trall” bei Google Übersetzer ein, nehme die automatische Spracherkennung, und, was kommt? Auf Spanisch heißt es “Schleudertrauma in Trall”.
Ein absoluter Klassiker des wohl tatsächlich sehr liedstarken Jahrgangs war auch Nicola di Bari, “Il giorno dell’arcobaleno”. Einer der Juwelen aus Italien, dessen San Remo Festival immer wieder anspruchsvolles Material zum Eurovisions-Wettbewerb entsandte.
Unerwähnt bleiben darf in diesem Jahr auch keinesfalls Betty Mars aus Frankreich. Die Chansonette konnte an ihren Erfolg als Eurovisionsinterpretin Frankreichs nicht anknüpfen (es existiert sogar eine deutsche Version ihres Liedes, “Komödiant der Liebe ”), wenn sie auch 1974 im Film Piaf dem “Spatzen von Paris” ihre Stimme lieh. Sie trat später u.a. in einem Softporno als Sängerin auf (“Emilienne”, 1975) und beendete ihr Leben 1989, 44jährig, durch einen Sprung aus dem Fenster.