Man tut dem Schweizer Vorentscheid von 1985 sicherlich nicht Unrecht, wenn man ihn als eine Art von musikalischer Bankrotterklärung bezeichnet, auf das Schönste illustriert durch die Teilnahme einer aus den Resten des bereits im Vorjahr gescheiterten Martin Richard Trios gebildeten Formation mit dem einfallsreichen Namen Swiss Singers. Die berichteten in ihrem absonderlichen Rock’n’Roll-Schlager ‘Kuckuck’ nämlich detailliert von den Pfändungsversuchen des Gerichtsvollziehers. Und das, obwohl man doch “immer pünktlich die Stundung eingereicht” habe und die vom Siegelaufkleber als mögliches Verwertungsgut in Augenschein genommene neue Schrankwand noch gar nicht abbezahlt sei! Auch im restlichen, erneut gleichmäßig nach den drei Sprachgruppen aufgeteilten Teilnehmendenfeld beherrschten die Rückkehrer:innen die Szene: die Vorjahresvertreter:innen Rainy Day flanschten sich im Jahr der Jugend auf Italienisch an ebendiese ‘Gioventù’ an, Arlette Zola erflehte mit einer neuerlichen frankophilen Bombastballade vergeblich ‘Aime-moi’ (‘Liebe mich’) und Daniela Simmons pflanzte ihre in Silberfolie eingeschweißten Kurven und ihre fabulöse Fönfrisur für ihren selbstgeschriebenen Rohrkrepierer ‘Repars à zéro’ (‘Zurück auf Null’) hinter das Klavier.
Das massive Missverhältnis von Songpräsentation zu quälend langer Pauseneinlage erfuhr sogar durch den Kommentatoren des Deutschschweizer Fernsehens Tadel: der Concours 1985 am Stück.
Dann gab es noch eine Kapelle namens Friends (nein, nicht diese hier), die einen Appell für ein geeintes Europa vorbrachten, sowie den Tessiner Arzt und angehenden Psychater Renato Mascetti, der im Ankündigungsvideo noch im etwas wurstpellös sitzenden gelben Pullunder durchs TV-Studio stolzierte, sich für den Live-Auftritt mit seiner sentimentalen Schwarzweißfilm-Reminiszenz ‘Una Notte a Casablanca’ dann aber wenigstens in einen Glanzblazer schmiss. Die frühere Grand-Prix-Repräsentantin Mariella Farré musste gleich zwei Mal ran: zunächst als vom DRS quasi zwangsverpflichtete Interpretin für den vollenthirnten Fremdschämschlager ‘Pierrot’, den sie dennoch mit respektablem Engagement über die Bühne brachte. Und zweitens im Duett mit Pino Gasparini, der die Eidgenossenschaft bereits 1977 als Teil der Pepe Lienhard Band vertrat und nun gemeinschaftlich mit ihr ein textlich ebenfalls hart an die Grenze zur Aphasie schrammendes, lauwarmes Schlagerchen namens ‘Piano, piano’ zum Besten gab. In dessen Verlauf Mariella ihren Galan zunächst friendzonte, sich am Ende aber trotz ihrer ursprünglichen festen Entschlossenheit, es soweit nie kommen zu lassen, doch verliebte.
Daniela Simmons mit einem, laut dem Kommentatoren, “modernen Lied”: da muss der Gute wohl gerade per Zeitreise aus dem Jahre 1750 gekommen sein?
Weswegen der unerklärliche Stimmungsumschwung? Der auch musikalisch auf leisen Sohlen daherkommende, jedoch als einziges Angebot des Abends mit einem wenigstens minimalen Wiedererkennungswert ausgestattete Song blieb uns die Antwort darauf schuldig. So wankelmütig wie das Siegerliedchen gestaltete sich auch die Abstimmung: die beiden zuerst abgefragten Publikumsjurys aus dem deutschsprachigen und dem romanischen Teil gaben ihre Höchstwertungen erstaunlicherweise an die anfänglich erwähnten Pleitegeier – ein für die sich stets als hochsolides Bankenland präsentierende Schweiz eigentlich schockierendes Zwischenergebnis! Das Tessin votierte wenig überraschend für den Tessiner und die Senderjury präferierte stattdessen die stolpernde Klavierballade von Frau Simmons. Das Ticket nach Göteborg verdankt unser zu allem unentschlossenes Pärchen schließlich der heimischen Presse, die den Swiss Singers einen einzelnen Strafpunkt reinwürgte und Mariella & Pino an die Spitze setzte. Beim ESC reichte es zu einem lauwarmen 12. Platz. Grand-Prix-Geschichte schrieb der Beitrag allenfalls durch seine Komponistin, die dreifache Grammygewinnerin Anita Kerr, die beim europäischen Wettbewerb als erste nichtprofessionelle Dirigentin am Taktstock stand.
https://youtu.be/EH7zdPbvc6k
Hatten beide die Haare schön: Marielle & Pino.
Vorentscheid CH 1985
Concours Eurovision. Samstag, 23. Februar 1985, aus dem TSR-Studio in Genf. Neun Teilnehmer:innen. Moderation: Serge Moisson. Drei regionale Publikumsjurys, Pressejury, Senderjury (je 20%).# | Interpreten | Songtitel | DRS | TSR | TSI | Presse | Jury | Punkte | Platz |
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01 | Rainy Day | Gioventù | 03 | 05 | 08 | 08 | 06 | 30 | 04 |
02 | Nicki Nicolas | Je n’aime que toi | 01 | 03 | 01 | 02 | 01 | 08 | 09 |
03 | Mariella Farré | Oh, mein Pierrot | 05 | 04 | 02 | 06 | 05 | 22 | 07 |
04 | Friends | Europeo | 04 | 03 | 04 | 03 | 08 | 21 | 08 |
05 | Mariella Farré + Pino Gasparini | Piano, piano | 08 | 07 | 06 | 10 | 04 | 35 | 01 |
06 | Arlette Zola | Aime-moi | 07 | 08 | 07 | 07 | 02 | 31 | 03 |
07 | Daniela Simmons | Repars à zéro | 06 | 06 | 05 | 05 | 10 | 32 | 02 |
08 | Swiss Singers | Der Kuckuck | 10 | 10 | 03 | 01 | 03 | 27 | 05 |
09 | Renato Mascetti | Una Notte a Casablanca | 02 | 01 | 10 | 04 | 07 | 24 | 06 |
Letzte Aktualisierung: 23.05.2023