Nichts geht doch über das lieb gewonnene Vorweihnachtsritual des Festivali i Këngës (FiK)! Bereits zum 58. Mal findet das traditionsreiche, wie der Eurovision Song Contest selbst am Vorbild des italienischen San-Remo-Festival geschulte Liederfest heuer statt und dient erneut als Vorentscheid für Rotterdam. Nach einem ebenso halbherzigen wie umstrittenen Modernisierungsversuch mittels einer Halbplaybackrunde kehrte der albanische Sender RTSH diesmal flugs zur altgewohnten Ausrichtungsform mit klassischem, großem Rundfunkorchester und zwei Qualifikationsrunden zu je zehn Kombattant/innen zurück. Ebenso traditionell auch die jeweils (!) fünfundvierzigminütige (!!) Verspätung, mit der beide (!!!) Semis sowohl am Donnerstag als auch am Freitag starteten und die RTSH mit einer Endlosschleife des ewiggleichen Werbeblocks überbrückte, den wir natürlich während der Live-Show ebenfalls mehrfach über uns ergehen lassen mussten. Verlass war ebenso auf die technischen Pannen: so kämpfte die charmante Gastgeberin der beiden Abende, die jede Werbepause nutzte, um in ein neues, aus jeweils unterschiedlichen Gründen aufsehenerregendes Kleid zu schlüpfen, und die sämtliche Schnellsprechrekorde von Dieter Thomas Heck atemlos in den Schatten stellte, mit einem Wackelkontakt in ihrem Headset. Dennoch dauerte es eine geschlagene halbe Stunde, bis man ihr ein störungsfrei funktionierendes Handmikrofon anreichte.
Showtreppen, Showtänze, gravitätisches Schreiten und eine hübsche Überraschung am Ende: Elvana Gjata sollte Kurse in korrekter Eurovisions-Choreografie geben. Wehe, das gewinnt nicht!
Gewohnt unkonventionell gestaltete sich der Sendeablauf. So platzierte RTSH seine zahllosen Pausenacts nicht, wie es in allen anderen Ländern der Erde üblich ist, zum Zwecke der zeitlichen Überbrückung zwischen dem letzten Wettbewerbsbeitrag und der Verkündung der Ergebnisse. Die alleine entscheidungsberechtigte, fünfköpfige internationale Jury unter Mitwirkung des schwedischen Mello-Impresarios Christer Björkman korrumpierte nämlich hinter verschlossener Tür und gab erst tief in der Nacht von Freitag auf Samstag bekannt, wer ins Finale am Sonntag weiterziehen darf. So stopfte man die für die Show-Dramaturgie also komplett nutzlosen Stargäste wahllos irgendwo ins Programm, im ersten Semifinale beispielsweise unter anderem zwischen den Wettbewerbsbeiträgen 9 und 10. Von unter Zuckerschock stehenden, aufgekratzten Vorschulkindern (nach 22 Uhr!) über eine bizarre Hommage an den Kinofilm The Joker bis hin zu von Konservenlachern unterlegter politischer Stand-up-Comedy war alles dabei, was das Zuschauen für den nicht des Albanischen mächtigen Teil des Publikums zur endlosen Qual machte. Aber das FiK, es ist nun mal keine einfach zu konsumierende ‘Liebe ohne Leiden’, sondern ein sehr spezieller Genuss, den man sich hart erarbeiten muss.
War der Kameramann betrunken? Stargast Mahmood mit seiner fantastischen ESC-Nachfolgesingle ‘Barrio’.
Unvergesslich bleiben zwei Momente: der Auftritt des letztjährigen italienischen Eurovisionsvertreters Mahmood, der mit seiner mehr als fragwürdigen Garderobenwahl einmal mehr unter Beweis stellte, dass umwerfend gutaussehende Menschen wie er einfach alles tragen können. Bonuspunkte sammelte der charmante Mailänder mit einer Solidaritätsadresse an die Betroffenen des verheerenden Erdbebens, das Ende November 2019 Albanien erschütterte und 51 Todesopfer sowie rund 2.000 Verletzte forderte. Zum Höhepunkt des zweiten Abends geriet die komplett eskalierte Ehrung eines steinalten skipetarischen Komponisten für seine Verdienste um das heimische Schlagerwesen. Der schätzungsweise Hundertjährige, dessen schlecht sitzendes Toupet nach dem Frisurenvorbild des früheren großdeutschen Führers gekämmt war, wirkte zeitweise, als wisse er nicht, wo er gerade sei und was um ihn herum vorgehe. Doch im Laufe der gefühlt einstündigen Hommage taute er zusehends auf und begann, wie alte Menschen das manchmal gerne tun, seine komplette Lebensgeschichte zu erzählen. In Echtzeit.
https://www.youtube.com/watch?v=pk0bWywvh7A
Das singende Einhorn: Bojken Lako.
Alle zunehmend panischeren Versuche der Moderatorin, ihn irgendwie abzuwürgen oder ihm durch das Überreichen von Trophäen und Blumensträußen zu nötigen, endlich das Mikrofon aus der Hand zu geben, schlugen fehl. Und so schob die Sendeleitung irgendwann mitten in seinem noch immer nicht versiegten Redefluss einen ungeplanten Werbeblock ein, um den Greis im Schutze der abgeschalteten Kameras mit Nachdruck aus dem Saal zu eskortieren. Jetzt aber endlich zu den Wettbewerbsbeiträgen! Zu den altbekannten FiK-Ritualen, die keinesfalls fehlen dürfen, zählt der unvermeidliche Auftritt des ebenso unvermeidlichen Bojken Lako. Der durfte diesmal das erste Semi eröffnen, wohl, damit wir es gleich hinter uns hatten. Wie immer hatte sich Lako das Haupthaar gefärbt, nicht jedoch den Vollbart. Und wie immer stellte er den Ständer in Stirnhöhe ein und murmelte dann von unten in das kopfüber vor seinem Gesicht hängende Mikrofon. Was aussah, als versuche er, eine erektile Dysfunktion vermittels eines Exorzismus zu heilen. Gruselig!
https://www.youtube.com/watch?v=lazeJl_qFh0
Aldo Bardi channelt seinen inneren Stig van Eijk. In Schutzkleidung. Bedrohten ihn aufgebrachte Lordsiegelbewahrer des Grand-Prix-Wesens wegen der Übertretung der sakrosankten Sechs-Personen-Regel mit dem Tode?
Dass die Zeiten immer härter und die Auseinandersetzungen immer unversöhnlicher geführt werden, findet nun auch Niederschlag in der aktuellen Herrenmode. Jedenfalls in Tirana: gleich zwei Kombattanten der ersten Qualifikationsrunde, nämlich Aldo Bardhi und Renis Gjoka, wappneten durch das Anlegen einer schusssicheren Weste gegen die Konkurrenz. Oder gar gegen mögliche massive Missfallensbekundungen des (allerdings apathisch agierenden) Saalpublikums? Wobei sich ihre Songs als viel zu harmlos erwiesen, dass sich jemand ernsthaft hätte bemüßigt fühlen können, sie von der Bühne zu ballern: Aldos ‘Melodi’ kam als zahnloses Retro-Disco-Liedchen daher, Renis’ ‘Loja’ (‘Das Spiel’) als blechbläserlastiger Softrockbrei. Auf das eingangs erwähnte FiK-Vorbild, das italienische San-Remo-Festival, rekurrierte der optisch ein wenig an die fiktionale Verliererfigur Dean Hodes aus der TV-Serie Weeds erinnernde Devis Xherahu, der zu lieblichen Mandolinenklängen erklärte, er “rede mit der Serenade”. Schließlich klang die Nummer, als sei sie genau dort im Jahre 1958 entführt und erst vorgestern in Tirana wieder freigelassen worden.
https://www.youtube.com/watch?v=qt39b9Fje7Q
Kann sie sich am Sonntag Luft verschaffen? Sara, die Bakterie.
Für einen unfreiwilligen Lachanfall bei deutschsprachigen Zuschauer:innen sorgte die Sängerin Sara Bajraktari, die in scheinbar höchster Not immer und immer wieder das Wort “Eier! Eier! Eier!” herausschrie, und das mit einem Gesichtsausdruck, der auf festsitzende Blähungen in Folge des Genusses zu vieler Hühnerprodukte schließen ließ. Da erscheint der Titel ihrer dramatisch-sanften Balkanballade ‘Ajër’, die wir im morgigen FiK-Finale zu Recht wiedersehen werden, doch in ganz anderem Licht, schließlich übersetzt sie sich mit, genau: ‘Luft’. Viel Spaß mit diesen Bildern im Kopf! Ebenso ins Finale schaffte es die Fan-Favoritin Elvana Gjata, die mit ihrem selbst geschriebenen Beitrag ‘Me tana’ (‘Bei uns’) das beim Song Contest (zumindest von mir) schmerzlich vermisste Genre der Ethno-Disco wiederbelebte. Mit zunächst sechs Begleittänzerinnen, beim Songfinale dann um zwei weitere männliche Kollegen aufgestockt, und einer stringenten Choreografie überforderte sie zwar deutlich die Kameraleute des albanischen Staatssenders. Ein audiovisueller Genuss war’s trotzdem.
https://www.youtube.com/watch?v=efqvTbtTMUA
Singt Era Rusi da ganz am Anfang was von “gay”? Zu den trockenkopulierenden Tanzmäusen würde es passen!
Dies lässt sich auch für ‘Eja merre’ (‘Komm schon’) sagen, das zweite, noch prachtvollere Exemplar aus der heißgeliebten Song-Gattung, mit dem die blonde Wuchtbrumme Era Rusi im zweiten Semi zwanglos auf den Spuren von ‘Pred da se razdeni’ (MK 2013) wandelte. Und zwar umrahmt von drei hochgradig exaltierten Tänzern, die zu Rusis engagierten “Le le le“s auf der Bühne umhertollten und die Beinchen in die Luft warfen, als sei der Geist von Ute Lemper in sie eingefahren. Wie wunderbar! Auch die ehemalige albanische ESC-Repräsentantin Olta Boka bediente sich an bereits bestehenden Konzepten: für die Bühnenpräsentation ihrer leider extrem öden Liebesballade ‘Botë për dy’ (‘Welt für Zwei’) übernahm sie maßstabsgetreu den Auftritt ihres aserbaidschanischen Kollegen Farid Mammadov (‘Hold me’). Mitsamt des halbnackten Tänzers im Plexiglaskasten, der ebenso wie Farids Alter Ego die Box von innen betatschte und dabei Fettfingerspuren hinterließ. Die sterile Lichtkegelchoreografie von Sanna Nielsen (‘Undo’) lieferte hingegen die Inspiration für den passend betitelten ‘Shaj’ (‘Schrei’) von Arilena Ara, die nach dem gestrigen Abend in den internationalen Fan-Foren neben Elvana Gjata als zweite heiße Anwärterin für das Ticket nach Rotterdam gilt.
https://www.youtube.com/watch?v=jCKsleqWoz0
Maja Sar hat angerufen und will ihr Echsenkostüm zurück: Arilena Ara schreit. Und wer schreit, hat Unrecht.
Zu meinem Erstaunen übrigens, denn außer Lautstärke hatte sie absolut nichts zu bieten: weder intonierte Ara besonders treffsicher, noch wohnte ihrer antiseptischen Darbietung auch nur der Funke eines authentischen Gefühls inne. Da geht wohl die böse Saat der unseligen Castingshows mit ihrer reinen Fokussierung auf Äußerlichkeiten auf: wie sollen die Kinder denn heutzutage echte Leidenschaft erkennen und würdigen, wenn das Fernsehen ihnen nur karrieregeile Schreihälse vorsetzt, die für die Jurys liefern müssen? Wie man Emotionen zeigt, demonstrierte unterdessen Albërie Hadërgjonaj mit einer zugegebenermaßen ziemlich skurrilen Darbietung. Mit einem unschuldsweißen Engelsgewand mit güldener Bruststütze und aufgestecktem Heiligenschein verkleidete sie sich jahreszeitlich treffsicher als Marienfigur, wozu ihr üppiges Dekolleté jedoch genau so wenig passte wie ihr zornig-angewiderter Gesichtsausdruck und die maskenhafte Glitzerschminke, mit dem die RTSH-eigene Make-up-Fachkraft sämtliche weibliche Mitwirkende der beiden Abende, einschließlich der Moderatorin und der Stargäste, zwangsbeglückte. So dass alle Damen aussahen wie menschgewordene Marzipanschweinchen.
https://www.youtube.com/watch?v=dIFCU119Pfg
Passt in die Weihnachtszeit: Albërie Hadërgjonaj übt schon mal fürs Krippenspiel.
Albëries balladeskes Partnerschaftsbuhlen ‘Ku ta gjej dikë ta dua’ (‘Wo finde ich jemanden, den ich lieben kann’) jedenfalls kam anfangs zwar etwas zäh in die Gänge, überzeugte im weiteren Verlauf jedoch zunehmend durch hochdramatische Steigerungen und einen freigiebig agierenden Begleitchor. Widmen wir uns den Ausscheider:innen: den unseligen Geist des fremdschampeinlichen deutschen Mutter-und-Tochter-Eurovisions-Duos von 1988, Maxi + Chris Garden, ließ das albanische Vater-und-Tochter-Duett Nadia + Genc Tukiçi mit einem pathostriefenden Schmachtriemen namens ‘Ju flet Tirana’ wieder auferstehen. Welch sprechender Titel: nach diesem unterirdisch schiefen Gewinsel würde ich auch aus der Hauptstadt fliehen, schleunigst! Ebenfalls mit einer (sehr zähen) Klavierballade versuchte es die ziemlich benebelt wirkende Wendi Mancaku, die vor allem für ihr aus mehreren Metern glitzerblauen PVCs bestehendes, üppiges Kleid in Erinnerung bleibt. Für sie kam bereits am Donnerstag das ‘Ende’, ebenso wie für den skurrilen Backenbartträger Kastro Zizo, der zur Schreckensmelodie von ‘Lemon Tree’ mit Grabesstimme irgendetwas raspelte und dabei stets um Haaresbreite neben seinem sanft säuselnden Begleitchor lag.
https://www.youtube.com/watch?v=DCKFaxwfW9I
Eli Fara sieht in ihrem Gouvernantinnenoutfit total maltesisch aus. Rapper Stresi tanzt wie eine bekiffte Realschuldirektorin und den Song kann man auch als Nichtskipetare mühelos mitsingen. Ich liebe alles daran!
Ausgesprochen possierlich hingegen das Duo Eli Fara + Stresi, deren hübscher Ethno-Schunkler ‘Bohem’ fast ausschließlich aus hundertfach wiederholten “Yamma, yamma”-Rufen bestand, wozu sich der in einem senfgelben Wollmantel und aparten Hightop-Sneakers allerliebst herumzappelnde Stresi an einer Art Sprechgesang versuchte und dabei so grandios scheiterte, dass man sich auf der Stelle in ihn verliebte. Schließlich zog er noch ein ebenfalls senffarbenes Einstecktüchlein hervor, was ihn je nach befragter Hankycode-Tabelle entweder als Fußfetischisten oder als Träger eines, ahem, großen Zauberstabs ausweist. Da übernehme ich doch gerne die weitere Recherche! Wie wir wissen, ist ein FiK kein FiK ohne den unvermeidlichen Balkan-Rock, den es heuer in öd, in geil und in so mittel gab und den die Juror:innen unisono ins Finale durchreichten. Was im Falle des FiK-Rückkehrers Tiri Gjoci zumindest optisch erfreut. Musikalisch stand er ‘Mit einem leeren Glas’ vor uns, denn seine zähe Rockballade hinterließ ein staubtrockenes Gefühl, wenn schon nicht in der Kehle, dann in der Seele. Aber zuschauen mochte ich ihm gerne!
https://www.youtube.com/watch?v=Fgy5w5c70fM
Auch das RTSH-Orchester hat erkennbar Spaß an der Nummer: Valon Sheshu öffnet die Büchse der Pandora.
Wie es richtig geht, zeigte stattdessen der famose Eugent Bushpepa, der in seiner Komposition ‘Kutia e Pandorës’ die E‑Gitarren nur so kesseln ließ, zusätzlich jedoch einen extrem funkigen High-NRG-Discobeat darunter legte und das Tempo aufs Angenehmste anzog. Um so bedauerlicher, dass er die Nummer nicht selbst sang, denn der von ihm ausgewählte Interpret Valon Shehu kam zwar im stilechten schwarzledernen Metaller-Outfit und kniete sich komplett rein, konnte aber weder stimmlich noch charismatisch mit dem Meister mithalten. Einen schönen Schlusspunkt unter das zweite Halbfinale setzte dann der Langhaarzottel Gena mit seinem patriotischen Stadionstampfer ‘Shqiponja e lirë’ (‘Freier Adler’), der ebenfalls mit druckstarker Disco-Percussion arbeitete. Sowie mit dezenten Dudelsackverzierungen, flügellappigen Tänzer:innen, magerer Pyro und einem gegrölten “Ohoho”-Refrain, in welchen das – im Gegensatz zum ersten Semi wie ausgewechselt scheinende – Saalpublikum begeistert einstimmte.
https://www.youtube.com/watch?v=bVMJAxo6–8
Okay, für die Choreografie arbeiten wir einmal alle gängigen Eurovisionsklischees ab. Und dann stellen wir einen “echten” Rocker davor. Gena ist gerne dabei.
Find ich gut, dass Albanien dieses Jahr mit Elvana den türkisch angehauchten Balkan- Sound zum ESC zurückbringt!
Hoffentlich vergeigen es die Juroren heute Abend nicht …Bibber!
Eugents Nummer ist auch nicht schlecht, aber lasst den armen Valon doch nicht so allein auf der Bühne rumzappeln, da gehört ein gescheite Band mit auf die Bühne!
Danke für die kongeniale Zusammenfassung der beiden Abende 🙂
@thomas, .…vergeigt!
Tja, diese strunzdumme (sorry) albanische Jury hats vergeigt 🙁