Holprig verlief das Ende der jugoslawischen Eurovisionsgeschichte, und holprig verlief auch der Wiedereinstieg Serbiens beim europäischen Wettsingen nach mehr als zehnjähriger Pause. Wobei diese schon etwas früher geendet hätte, wäre es nach dem Willen des Senders RTS gegangen. Doch der Reihe nach: zuletzt wehte 1992 beim Song Contest die jugoslawische Flagge. Dabei existierte zu diesem Zeitpunkt der bisherige sozialistische Staatenbund nach den Unabhängigkeitserklärungen sämtlicher ehemaliger Teilrepubliken (bis auf die letzten Getreuen in Podgorica) de facto schon gar nicht mehr, auch wenn man sich in Belgrad beharrlich weigerte, dies anzuerkennen. Die am 24. April 1992, also gerade mal gut zwei Wochen vor dem Wettbewerb im schwedischen Malmö, notgedrungen neu konstituierte “Bundesrepublik Jugoslawien” bestand nur noch aus Serbien und Montenegro, weswegen man sie im Westen gerne mit den etwas despektierlichen Beinamen “Rest-YU” belegte. Auch die von diesem quasi Geisterstaat entsandte, letzte jugoslawische Grand-Prix-Vertreterin, Extra Nena (bürgerlich: Snežana Berić), stammte aus Belgrad. Die letzte YU-Repräsentantin sollte sie werden, weil die EBU als Reaktion auf die blutigen Balkankriege ab 1993 eine Teilnahmesperre für den selbsternannten Nachfolgerstaat verhängte.
Abendkleider tragen kann sie, und die große Geste beherrscht sie auch: das Prädikat “Extra” hat sich diese Diva redlich verdient.
Nach zehn Runden Aussetzen befand das serbische Fernsehen RTS nun im Jahre 2002, jetzt lange genug auf der Strafbank gesessen zu haben und bewarb sich bei der EBU um eine Teilnahme am Eurovision Song Contest 2003 in Riga. Dessen Tanzkarte lief mit 26 angemeldeten Nationen jedoch bereits über, so dass die Genfer:innen Belgrad vertrösten mussten. RTS organisierte hiervon unbeirrt trotzdem einen nationalen Vorentscheid mit 28 Songs, offiziell, um schon mal zu üben. Nicht die schlechteste Idee, denn der Start der neuen Sendereihe Beovizija stand offenbar unter einem finsteren Stern: nur elf Tage vor dem ursprünglich geplanten Veranstaltungstermin erschoss ein gedungener Scharfschütze den damals amtierenden, proeuropäischen Staatspräsidenten Zoran Đinđić. Chaos brach aus, die serbische Führung verhängte den Ausnahmezustand über das Land, die dreiteilige Show (zwei Semis zu je 14 Titeln sowie ein Finale mit den besten 20) verschob man um knapp drei Wochen auf den 12. bis 14. April 2003. Wohl unter dem Eindruck der aktuellen Unruhen blieben die Zuschauerreihen im Sava-Center relativ spärlich besetzt, dafür sollte sich die Beovizija 2003 als einschaltquotenstärkste Unterhaltungsshow des Jahres erweisen.
Optisch nach wie vor ein Hingucker, akustisch leider nur Durchschnitt: Bebi Dol.
Wie, um den Faden zur eingangs erwähnten letzten ESC-Teilnahme in Malmö zu knüpfen, tauchte auch Frau Berić im Line-up des Übungs-Vorentscheids auf und stellte mit der leicht weihnachtlich angehauchten, pompös-zähen Ballade ‘Čovek kog sam znala’ (‘Ein Mann, den ich kannte’), vor allem aber der dazu abgelieferten Show erneut unter Beweis, wie Extra diese Nena im Gegensatz zur deutschen Verschwörungsschwurblerin doch nach wie vor ist. Sie brachte aus der Abteilung “jugoslawische Grand-Prix-Legenden” noch ihre Eurovisionskollegin aus dem Jahr davor mit: Dragana Šarić, die als Baby Dol im spektakulären babyblauen Dragqueen-Strampler in Rom für Aufsehen gesorgt hatte, konnte mit ihrem aktuellen, etwas beliebigen Beovizja-Beitrag ‘Tvrdoglava’ (‘Hartnäckig’) zwar nicht mit der Fabelhaftigkeit von ‘Brazil’ mithalten, zeigte sich dafür aber gegenüber 1991 optisch um nicht einen einzigen Tag gealtert. Ein Pakt mit dem Teufel, der Jungbrunnen oder doch nur ein geschickter plastischer Chirurg? Zum Karrieredurchbruch verhalf die Show der serbischen Turbofolk-Königin Ana Nikolić, die hier mit dem sensationellen Banger ‘Januar’ ihr erfolgreiches Erstlingswerk präsentierte. Sie sollte zwei mal im Drei-Jahres-Abstand zur Beovizija zurückkehren.
Im Dunkeln ist gut Munkeln: Marina wirkt ein bisschen wie die im Herzen junggebliebene Englischlehrerin, die sich auf einen Rave verirrt hat und unter Beweis stellen will, dass sie noch locker mithalten kann.
Insgesamt dominierten – zumindest bei den heute noch im Netz auffindbaren Stücken – die elektronischen Beats deutlich. So, wie beispielsweise beim musikalisch bereits an Goa-Techno grenzenden, hart wummernden ‘Seks bez Dodira’ (‘Sex ohne Berührungen’) von Marina Perazić, ehedem Teil des kroatischen Elektro-Duos Denis & Denis, die sich dazu für ihr Alter erstaunlich geschmeidig bewegte. Das tat übrigens auch der von RTS engagierte Background-Chor aus drei jungen, feschen, einheitlich gewandeten Damen, die sämtliche Auftritte begleiteten und dabei nicht nur fabelhaft groovten, sondern auch stimmlich überzeugten. Eine wirkliche Bereicherung der Show! Die dürften nicht ganz billig gewesen sein, und so erstaunt es wenig, dass RTS zur Refinanzierung den Bühnenhintergrund mit Werbetafeln vollpflasterte. Sämtliche 28 Beiträge und ihr Staging verblassten jedoch gegen die als Stargast fürs Rahmenprogramm gebuchte Skandalnudel Jelena Karleuša. Die tummelte sich zu einem technoiden Remix ihres Songs ‘Manijak’ gemeinsam mit einem dreiviertel Dutzend halbnackter Muskelburschen in hautenger Badekleidung auf einem gigantischen Bett. Was wohl vor allem deswegen für Empörung sorgte, weil die knackigen Kerle in schmutzigen Sneakers auf dem hellen Seidenlaken herumsprangen, während Jelena sich heftig keuchend durch ihre Nummer arbeitete. Unklar blieb, ob das erotisch klingen sollte oder der harten Bewegungsarbeit geschuldet war.
https://youtu.be/rsxly47XWog
Nach einem anstrengenden olympischen Wettschwimmen lockt das Bett zum gemeinsamen Ausruhen: Trainerin Jelena und ihre Mannschaft.
Die Ergebnisse des nach maltesischem Vorbild aufgezogenen Abstimmungsverfahrens (acht einzeln votende Juror:innen plus das Televoting als neunte Stimme) verlieren sich mit Ausnahme der Ränge 1 bis 6 – letzterer gehalten von der bereits erwähnten Frau Perazić und ihrem coronakonformen Sexlied – in den Nebeln von Norwegen. Den Sieg machte ein allseits bekannter Sänger aus Nordmazedonien klar: Toše Proeski überzeugte mit seiner hingebungsvoll vorgetragenen Rockballade ‘Čija si’ nicht nur die Jury, sondern konnte anschließend auch einen Hit in weiten Teilen des Balkans damit landen. Zu Recht: zwar nervten die komplett überflüssigen, uptemporären E‑Gitarren- und Synthie-Einlagen in dem Song wirklich kolossal, doch dafür schüttete der fantastische Sänger in den langsamen Parts des Lieds sein Herz dermaßen ergreifend vor uns aus, dass dies gar keine Rolle mehr spielte. Was für ein begnadeter Künstler; was für ein herber, himmelschreiender Verlust sein viel zu früher Unfalltod! Sein als einziges der früheren jugoslawischen Republiken von Belgrad völlig kampflos in die Unabhängigkeit entlassenes Heimatland verpflichtete ihn dann auch folgerichtig 2004 beim Eurovision Song Contest in Istanbul als nationalen Repräsentanten.
https://www.youtube.com/watch?v=5OYIFrhjJEU&list=PL6tlaAOHN9P8-bI6RoYeIIvzia1KrTBHD
Die Playlist mit dem hervorragenden Siegersong und einem guten Dutzend weiterer Beiträge.
Die “Bundesrepublik Jugoslawien” benannte sich noch im gleichen Jahr in “Serbien & Montenegro” um. Auch dieser Bund sollte nicht fürs ganze Leben halten, und die Beovizija, welche für die beiden nächsten Jahre als Vorauswahl des serbischen Landesteils und gleichsam als Semifinale der gemeinsamen nationalen Vorentscheidung Evropesma fungieren sollte, spielte beim Auseinanderbrechen der letzten “Rest-YU”-Bastion eine nicht unerhebliche Rolle. Aber das ist eine andere Geschichte, die ein anderes Mal erzählt werden soll…
Vorentscheid RS 2003
Beovizija. Montag, 14. April 2003, aus dem Sava Centar in Belgrad. 28 Teilnehmer:innen. Moderation: Katarina Rebrača, Milica Gacin und Feđa Stojanović. Achtköpfige Jury (89%) und SMS-Voting (11%).Interpreten | Songtitel | Jury | Platz |
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Agata | Možda sutra, možda pre | n.b. | n.b. |
Ana Nikolić | Januar | n.b. | n.b. |
Banda | Budi moja | n.b. | n.b. |
Bebi Dol | Tvrdoglava | n.b. | n.b. |
Braco | Greh | n.b. | n.b. |
Danijela Vranić | Hotel sa pet zvezdica | 00 | n.b. |
Darko Radovanović | Stidim se | n.b. | n.b. |
Delča | Anđeli | n.b. | n.b. |
Dora | Na kraju puta | n.b. | n.b. |
Extra Nena | Čovek kog sam volela | n.b. | n.b. |
Husa | Možda nisam dobar za tebe | 00 | n.b. |
Jellena | Prevariću te | 00 | n.b. |
Ksenija Mijatović | Miris Tuge | n.b. | 04 |
Lidija | Kad jednom odeš | n.b. | n.b. |
Maja Nikolić | Granica | n.b. | n.b. |
Mari Mari | Sve je to na obraz moj | n.b. | n.b. |
Marijana Zlopaša | Hladno srce | n.b. | 05 |
Marina Perazić | Seks bez dodira | n.b. | 06 |
Mogul | Oči Kafene | n.b. | n.b. |
Nataša Kojić | Sanjalica | n.b. | n.b. |
Olivera Aranđelović | A volela sam | n.b. | n.b. |
Plavo Nebo | Praznina | n.b. | n.b. |
Propaganda 117 | Teška tuga | n.b. | n.b. |
Tempo Slavija | Udaj se za bogataša | 00 | n.b. |
Toše Proeski | Čija si | 75 | 01 |
Trio Pasaž | Spasi me | 00 | n.b. |
Željko Samardžić | Ja te volim više | n.b. | 03 |
Теodora Bojović | Moj svet si ti | n.b. | 02 |
Sehr schöner Beitrag, aber wir waren bei den Vorentscheiden doch erst bei 1972 angekommen. Oder haben Ihre Vorentscheidsartikel keine feste Reihenfolge, nach der Sie sie verfassen?
Was wird denn hier noch alles neben den Vorentscheiden behandelt? Wird es zu Albanien 2003, welchem ja wegen den selben Gründen wie SM 2003 die Teilnahme verwehrt wurde, auch einen Artikel geben? Und wie gehen Sie mit dem Sanremo-Festival vor? Wird es da auch Artikel zu den Ausgaben 1998–2010 geben?
Danke im Voraus für die Antwort.
Fragen über Fragen, doch die Antwort kann keiner sagen… 😉
Stimmt, das war jetzt außerhalb der Reihenfolge. Ich bin letztens beim Stöbern darüber gestolpert, dass es 2003 auch eine Beovizija gab, was ich bislang nicht wusste. Und da ich persönlich sehr großer Fan des serbischen Vorentscheids bin, war meine Neugierde entfesselt…
Von Albanien 2003 höre ich gerade auch zum ersten Mal. Man sieht also, die Möglichkeiten gehen ins Unendliche. Ganz ehrlich, wann und wie ich mit was weitermache, kann ich nicht sagen. Das hängt immer von meiner extrem schwankenden Motivation ab und von der aktuellen Nachrichtenlage der laufenden Saison. Ich sag mal so: ich bin jetzt 54 und ich hoffe, ich schaffe es, zu allen Vorentscheiden was zu machen, bevor ich irgendwann ins Gras beiße. Sanremo 1998–2010 vielleicht, wenn ich Hundert werden sollte… 😉
Sehr schade, dass es den Artikel zur Evropesma 2006 wohl nicht geben wird.
Generell mal eine Frage: Gibt es bei dir eventuelle Überlegungen, zumindest mit dem historischen Zeug ab 1972 bis Mitte der 2000er weiterzumachen und das Archiv auszubauen, so in der eurovisionsfreien Zeit im Sommer, wenn das ganze etwas weniger stressig ist? Mich und andere würde es sicher freuen, aber entscheide du selbst darüber. Danke im Voraus für eine mögliche Antwort.