Es war eines der am schlechtesten gehüteten Eurovisionsgeheimnisse: gestern bestätigte das russische Fernsehen endlich, was die Spatzen bereits seit Wochen von den Dächern pfiffen: Sergey Lazarev, der von den russophoben Juroren aus politischen Gründen um den Gesamtsieg betrogene Televotinggewinner des Eurovision Song Contests von 2016, vertritt die Föderation 2019 in Tel Aviv. Die Nachricht sorgte für aufgeregtes Geschnatter in den Fan-Foren, zeigt der durchtrainierte 35jährige bei seinen Auftritten doch nur zu gerne nackte Haut und präsentiert sich im eng gesteckten Rahmen des für ihn als etablierten Star im streng homophoben Russland Machbaren als “gayfriendly”, auch wenn er sein eigenes Privatleben aus der Öffentlichkeit heraushalten möchte. Die ebenfalls verkündete Botschaft, dass Sehrgay für seinen aktuellen Eurovisionsbeitrag mit dem bewährten Dreamteam aus Filip Kirkorov, Dimitris Kontopolous und Fokas Evangelinos zusammenarbeitet, welches bereits für seinen spektakulär inszenierten, herrlich trashigen Popschlager ‘You are the only One’ verantwortlich zeichnete, weckte allerfreudigste Erwartungen auf einen erneuten Kracher derselben Güteklasse. Doch nun erstickte Lazarev alle diesbezüglichen Hoffnungen brutal im Keim.
Viel nackte Haut und pinke Klamotten: so lieben wir unseren Sergey (Repertoirebeispiel). So werden wir ihn in Tel Aviv aber leider nicht erleben.
Denn wie Eurovoix unter Bezugnahme auf ESCkaz berichtet, tritt der russische Superstar 2019 mit einer “epischen Powerballade” an, die mit einem Sinfonieorchester eingespielt worden sei. Damit wolle der Sänger, wie er bei einer Aufzeichnung für das heimische Fernsehen sagte, eine “völlig andere Seite” von sich zeigen, vor allem aber den unausweichlichen Vergleichen mit seinem legendären Auftritt in Stockholm “so weit wie nur möglich aus dem Weg gehen,” wie ihn ESCkaz zitiert. Denn der Ewartungsdruck, der auf ihm laste, sei auch so bereits extrem hoch – schließlich drängt sich die Parallele zu Dima Bilan unmittelbar auf, der bei seinem Eurovisions-Erstversuch 2006 mit ‘Never let you go’ ebenfalls Dritter wurde, bei seiner Rückkehr zwei Jahre später mit dem wesentlich schlechteren ‘Believe’ jedoch den Grand Prix mit nach Hause nehmen durfte. Kirkorov pries Lazarev sogleich als den “Einzigen, der das Interesse an diesem Wettbewerb wiedererwecken kann,” welches bei seinen Landsleuten nach dem selbst provozierten Aussetzer 2017 und dem Semifinal-Aus 2018 “gestorben” sei. Dass Sergey auch Balladen beherrscht, stellte er lustigerweise bereits in Kollaboration mit eben jenem Dima Bilan unter Beweis. Noch liegt sein Lied für Tel Aviv aber unter Verschluss.
Sergey kann auch Balladen, keine Frage (Repertoirebeispiel). Ein Eurovisionssieg mit einer eben solchen würde jedoch bei dem mit langsamer Lala chronisch überversorgten Wettbewerb natürlich genau das falsche Zeichen setzen.
[Nachtrag 09.03.2019]: Es muss einer der frühesten Favoritenstürze in der Eurovisionsgeschichte sein. Als das russische Fernsehen Anfang Februar 2019 bestätigte, dass Sergey Lazarev erneut die Föderation in Tel Aviv vertreten werde, schoss das Land umgehend in den Wettquoten ganz nach oben. Nicht zuletzt, weil der knackige und zeigefreudige Superstar 2016 bereits den Eurovision Song Contest gewann, zumindest im Televoting, also in der maßgeblichen Abstimmung. Der aktuelle Erzfeind, die Ukraine, schoss sich aus lauter Angst vor einem neuerlichen Zweikampf und einem möglichen Gesichtsverlust durch einen Gesamtsieg Lazarevs im Rahmen ihres Vorentscheids sogleich selbst ins Knie und musste die Teilnahme in Israel stornieren. Vorsichtshalber gab man umgehend zu Protokoll, 2020 ebenfalls nicht mitmachen zu wollen, falls der Wettbewerb wieder in Moskau stattfinde. Heute Nachmittag nun erblickte Sergeys Beitrag ‘Scream’ nach langem Getue und Gewese endlich das Licht der Welt, woraufhin Russland bei den Buchmachern innerhalb von nur einer Stunde seiner Favoritenrolle verlustig ging. Und das verwundert nicht, leidet die pompöse Bombastballade doch, wie so viele zeitgenössische Popsongs, unter einer eklatanten Refrainschwäche.
“I’ll swallow hard” und “my Throath is on Fire”: geschickt spielt Sehrgay mit den Wunschträumen vieler schwuler Fans.
Düster und dräuend beginnt die klassisch gestrickte Klavierballade aus der Feder des bewährten Dimitris Kontopolous, geht jedoch nach nur wenigen Sekunden des Vorspiels bereits musikalisch in die Vollen und bereitet den Hörer mit einem fabelhaft kitschigen, aufwallenden Pre-Chorus bestens auf den nahenden Höhepunkt vor – der dann jedoch ausbleibt. Denn dort, wo eigentlich ein prunkvoller Refrain stehen sollte, prangt nichts als ein abgrundtiefes, schwarzes Loch, in dem Sergey mit einem langgezogenen “Screeeeeeeeeeeaaaaaaam” auf Nimmerwiedersehen verschwindet. Die ganze Nummer scheint nicht so sehr als Lied konzipiert zu sein, sondern als Vehikel, um die stimmliche Leistungsfähigkeit von Russlands größtem lebenden Popstar unter Beweis zu stellen und vermutlich mit einer zum bombastischen Sound passenden, spektakulären Bühnenshow zu verknüpfen. Bereits der im Videoclip illustrierte Drachenkampf weist den Weg: die Föderation versteht den Eurovision Song Contest nicht als freundschaftlichen europäischen Liederabend, sondern als eine weitere Arena im ewigen Krieg um die Vorherrschaft. Doch auch wenn sie mit Sergey gewissermaßen die Black Pearl schickt: mit diesem klaffenden Loch im Bug wird das Schiff heuer untergehen.
Szene aus dem Film ‘Down by Law’. Nur so.
Er darf gern im Balladensumpf versinken.
So ganz passt der Vergleich zu Dima Bilan nicht, denn der wurde 2006 Zweiter und kehrte schon nach 2 Jahren wieder zurück *wegduck*
@aufrechtgehn: Ich kann deine Bemerkung nicht ganz verstehen. Warum bezeichnest du es als Betrug das Lazarev 2016 gottseidank nicht gewonnen hat? Warum willst du das der ESC in so einem homophoben Land wie Russland stattfindet? Du gibts dich doch immer so als Aktivist gegen Homophobie, und dann bedauerst du es das der ESC nicht in Russland stattfindet, in einem der homophobesten Länder überhaupt? Muss ich das verstehen? Heute, wie damals hat Russland beim ESC nix verloren. Punkt.
Na, das sind ja mal großartige Neuigkeiten!
Vielleicht kommt es ja dann zum Duell der Giganten mit den anderen wahren ESC Siegern il Volo!
@disneyfan
lass mal die politik aus dem esc draussen, wenn es nach poltitischer Moral ginge hätten neben Rußland auch einige Westeuropäische Länder regelmäßig 0 Punkte verdient.
@Thomas: Ich wüsste nicht was west-europäische Länder denn so schlimmes getan haben sollten. Es kann nicht schlimmer sein, als andere Länder zu überfallen oder Morde an unliebsame Landsleute zu befehlen, außerdem gibt es in keinem westeuropäischen Land staatlich gestütztes Doping. Das gibt es alles,nach heutigem Wissensstand, nur in Russland. Auch unterstützt kein westeuropäisches Land so tolle Parteien wie den Franc National in Frankreich oder die Afd in Deutschland. Noch haben westeuropäische Nationen die US-Präsidenschaftswahlen manipuliert oder fahren regelmäßige Hackerangriffe. Auch dafür ist Putins Russland verantwortlich. Und im übrigen ist kein westeuropäisches Land so derart homophob wie Russland.
Na dann ist ja alles zum Weltgeschehen gesagt und nun back to the music!
Macht es nicht größer, als es ist: Oliver hält nichts von der Wiedereinführung der Juries. Das hat er hier teils in eigenen Artikeln ausführlich begründet. Im Zweifel sei dann eben zu respektieren, dass der gemeine Zuschauer Sergey für siegeswürdig hielt, unabhängig von den (sexual-)politischen Implikationen eines russischen Sieges.
Er ist mir als Person im Gegensatz zu Dima Bilan oder Nettas Hilfssheriff Jacques Houdek sogar ziemlich sympathisch. Aber vermutlich wird erneut ein speziell für den ESC zusammengestrickter und auf Sieg getrimmter Beitrag präsentiert und das ist in der Regel so gar nicht mein Fall. Dabei hat er ansonsten ein durchaus ansehnliches Musikrepertoire (auch wenn das bei mir niemals in Dauerbeschallung laufen würde) Normalerweile gehen solche Sachen ein zweites Mal nicht mehr so gut aus. Mal sehen.….
Die Entscheidung für eine Ballade halte ich für durchaus klug. “You are the only one” ist in seinem Genre kaum mehr zu toppen. Toll wäre es jetzt noch, wenn er in Russisch singen würde. Aber das wird wohl nicht passieren.
Auch Lena hat sich ein Jahr später nicht einfach wiederholt. Egal ob mit dem letztendlich gewählten “Taken by a stranger” oder der Ballade “Push forward”.