Seitdem die beiden Kaukasusstaaten Armenien und Aserbaidschan am Eurovision Song Contest teilnehmen, sind die Grand-Prix-Fans wohl oder übel vertraut mit dem Konflikt der beiden Nachbarstaaten über Berg-Karabach, eine völkerrechtlich formell zu Aserbaidschan zählende, nach langjährigen blutigen Auseinandersetzungen und Vertreibungen von heute nur noch knapp 150.000 ethnischen Armenier:innen bewohnte Region (mehr Hintergründe in diesem heise-Artikel). Seit einem Referendum im Jahre 2017 nennt sich der von keinem anderen Land offiziell anerkannte De-Facto-Staat nun Republik Arzach. Von der Öffentlichkeit weitgehend ignoriert, schlug der lange Zeit eingefrorene Disput nun wieder in kriegerische Handlungen um, es gibt Bombenangriffe auf die Hauptstadt Stepanakert und Gefechte im Grenzbereich zum Iran. Und prompt meldete sich gestern die in Hamburg lebende armenische Eurovisionsrepräsentantin von 2016, Iveta Mukuchyan, zu Wort, und erregte Aufmerksamkeit mit der Behauptung, die ARD habe sie als potentielle deutsche Vertreterin für 2021 angefragt, ihr dann aber aus politischen Gründen – so jedenfalls ihre persönliche Vermutung – wieder abgesagt. Denn bei ihrer Teilnahme in Stockholm schwenkte sie im Greenroom die Fahne der umstrittenen Republik Arzach in die Kameras, wofür die EBU seinerzeit gegenüber der armenischen Delegation eine Verwarnung aussprach. Der NDR bestätigte mittlerweile auf Anfrage von ESC kompakt, dass Iveta tatsächlich “von digame irrtümlich in die erste Auswahl für 2021 hineingenommen und kontaktiert worden” sei, wies jedoch zurück, dass “politische Statements” eine Rolle für die Wiederausladung gespielt hätten.
Keine Liebeswellen für Iveta: der NDR lud sie zunächst für die interne Vorauswahl 2021 ein, nun aber wieder aus.
Der Grund sei vielmehr, dass “zwischen digame und dem NDR für den Auswahlprozess die Absprache [bestehe], dass Deutschland beim ESC nicht von Künstlerinnen und Künstlern vertreten werden soll, die bereits für ein anderes Land an dem internationalen Wettbewerb teilgenommen haben”, so die NDR-Pressestelle gegenüber ESC kompakt. Dass Iveta bereits für Armenien sang, muss man bei ihrer Einladung wohl übersehen haben. Diese offizielle Darstellung erwähnte Frau Mukuchyan auch in ihrem gestrigen Instagram-Post, mit dem sie den Stein ins Rollen brachte, ventilierte jedoch zugleich ihren schwärenden Verdacht, dass es in Wahrheit “höchstwahrscheinlich” um ihre damalige Flaggen-Aktion ginge. Nun scheint es mir wohlfeil, darüber zu debattieren, ob Ivetas Bauchgefühl oder das NDR-Statement stimmt. Einerseits liegt das letzte bekannte Angebot der ARD an eine ehemalige Eurovisionsvertreterin eines anderen Landes mehr als ein halbes Jahrhundert zurück: 1966 soll der damals verantwortliche Hessische Rundfunk die frühere niederländische Grand-Prix-Siegerin Corry Brokken angefragt, von ihr jedoch eine Absage kassiert haben. Andererseits sind beim ESC in der Vergangenheit immer wieder einzelne Künstler:innen mehrfach für verschiedene Länder an den Start gegangen, als Ausschlusskriterium wirkt dies ein bisschen dünn. Dass man in Hamburg angesichts der aktuellen Lage kalte Füße bekam, weil man befürchtete, in den politischen Schlagabtausch zwischen den beiden Kriegsparteien hingezogen zu werden, scheint mir da schon einleuchtender. Und nachvollziehbar: niemand will ein neues Juliagate, auch die Fans nicht.
Unschuldiges Opfer oder bewusst instrumentalisierte Propagandawaffe? Die Russin Julia Samoylova sorgte ein Jahr nach Iveta für den größten politischen ESC-Skandal ever.
Warum also ein Risiko eingehen? Zudem Iveta in ihrem gestrigen Posting durchschimmern ließ, dass bei einem neuerlichen Eurovisionsauftritt ihrerseits erneut mit Propaganda zu rechnen ist: als “in Deutschland lebende Armenierin” sei sie “im Herzen eine Patriotin,” so die ehemalige Voice-of-Germany-Teilnehmerin, welche die so erzeugte Aufmerksamkeit denn auch gleich nutzte, ihre Sicht der Dinge in der aktuellen bewaffneten Auseinandersetzung in epischer Breite darzulegen. Was völlig okay ist, schließlich wird in den deutschen Medien verhältnismäßig wenig über den wieder aufgeflammten Krieg vor der europäischen Haustür berichtet, jede Form von zusätzlicher Öffentlichkeit kann nur gut sein. Dass der NDR seine Absage gegenüber Iveta mit der oben skizzierten Begründung ummäntelte, mag daher der Höflichkeit geschuldet sein. Oder der Befürchtung, sich andernfalls angreifbar zu machen. Andererseits hätte es sie meines Erachtens auch gar nicht gebraucht: bei allem Verständnis für Iveta und den Wunsch, die Menschen auf die Lage des armenischen Bergvölkchens aufmerksam zu machen, wäre ihr damaliges Verhalten in Stockholm nun wirklich Anlass genug für einen Ausschluss von der internen deutschen Vorauswahl 2021. Nun wissen wir zumindest, dass wir uns aufgrund der neuen Regel keinen Hoffnungen auf Måns Zelmerlöw oder Conchita Wurst zu machen brauchen. Schade, irgendwie.
Ivetas Instagram-Post.
[Update 08.10.2020]: Wie ESC kompakt berichtet, stellte Iveta heute in mehreren Tweets klar, dass der NDR ihr die offiziell verkündeten Ablehnungsgründe ausführlich und transparent erklärt habe und es sich bei dem behaupteten Politikbezug nur um ihre ursprüngliche persönliche Annahme gehandelt habe. “Fehler passieren,” so Iveta in einem der Posts, wobei aus diesem nicht ganz klar wird, ob sie damit sich oder den NDR (oder beide) meinte. Auch wenn sie natürlich die nachträgliche Absage “vom Glücksgefühl in die Traurigkeit” gestürzt habe, so schätze sie das deutsche ESC-Team doch für seine Transparenz und seine “tolle Arbeit” und wünsche ihm “viel Glück und 12 Punkte aus allen Ländern. Ich werde immer ein Teil Deutschlands sein und bin stets dafür da, zu unterstützen und nicht, um Unannehmlichkeiten zu verursachen”. Abschließend richtete sie noch einen Appell an ihre Fans, ebenfalls die Regeln zu respektieren und die oder den nächsten deutschen Vertreter:in “voll zu unterstützen”.
Gelten Teilnahmen am deutschen Vorentscheid nicht als Angebot der ARD? Ich Fan-Anorak habe aus Spaß mal geschaut, wer alles schon in deutschen Vorentscheidungen war und vorher für wen anders beim ESC (in der Regel aber für politisch weniger brisante Länder):
2006 Vicky Leandros (Luxemburg 67,72)
[2002 Ireen Sheer (Luxemburg 74,85)]
1982 Paola (Schweiz 69,80)
1982 Séverine (Monaco 71)
1979 Paola (Schweiz 69)
1978 Peter, Sue & Marc (Schweiz 71, 76)
1978 Ireen Sheer (Luxemburg 74)
1976 Ireen Sheer (Luxemburg 74)
1976 Piera Martell (Schweiz 74)
1975 Séverine (Monaco 71)
1975 Peter Horton (Österreich 67)
1973 Tonia (Belgien 66)
1972 Peter Horton (Österreich 67)
(1972 angeblich ja auch Vicky Leandros, die dann mit “Dann kamst zu” nach Luxemburg ging)
1970 Kirsti Sparboe (Norwegen 65,67,69)
1969 Siw Malmkvist (Schweden 60)
1962 Siw Malmkvist (Schweden 60)
1962 Jimmy Makulis (Österreich 61)
1961 Christa Williams (Schweiz 1959)
Ich bezog mich im Artikel jetzt nur auf tatsächliche Eurovisionsteilnahmen, aber du hast natürlich Recht, zumal es bei Iveta ja auch nur um die Teilnahme am (internen) Vorentscheid ging. Das lässt die Begründung des NDR noch ein bisschen fadenscheiniger aussehen. Wobei man natürlich auch argumentieren kann: ja, haben wir früher mal gemacht, aber die letzten 15 Jahre eben nicht mehr.
Was hat denn digame mit der internen Auswahl zu tun? Ich dachte die machen Televotings?
Und selbst wenn es einen Entscheid mit Televoting gäbe: Wieso macht der Abstimmungsdienstleister irgendwas außer der Abstimmung?
Deren Homepage gibt auch nicht her, dass die irgendwie im Geschäftsgebiet “Künstlerauswahl” aktiv wären.
Ich gebe zu bedenken, dass man seit dem letzten Mal – 2006 – auch ein anderes Team hat, welches für den ESC verantwortlich ist. Jedes Team setzt seine eigenen Kriterien fest, sie darauf festzunageln, was früher mal galt bei anderen, ist auch nicht fair.
Abgesehen davon, dass ihr damliger ESC-Song nervig war (wäre er von D oder UK gekommen 0 Punkte, ist ihre Unterstützung der Kriegstreiberei damals unertäglich gewesen. Leute wie sie tragen dazu bei, dass Immigration von vielen Leuten so negativ gesehen wird.