Per­len der Vor­ent­schei­dun­gen: vom ent­setz­li­chen, süßen und dra­ma­ti­schen Tod

Es liegt ein­fach kein Trost in die­ser Zeit: wäh­rend sich das Kata­stro­phen­jahr 2020 quä­lend lang­sam dem bit­ter ersehn­ten Ende ent­ge­gen­schleppt, flan­kiert von einem abge­wähl­ten US-Prä­si­den­ten, der sich wie ein trot­zi­ger Fünf­jäh­ri­ger im Zim­mer ver­bar­ri­ka­diert und wütend “ich hab aber nicht ver­lo­ren” schreit, sowie von einer Schar von Soli­da­ri­täts- und Rea­li­täts­ver­wei­ge­rern, die im Ange­sicht der unver­min­dert wüten­den Coro­na-Pan­de­mie “Oh, wie ist das schön”-sin­gend durch deut­sche Innen­städ­te zie­hen und mit sol­chen als “Quer­den­ker-Demos” apo­stro­phier­ten Super­sprea­der-Events den Tod wei­ter­ver­brei­ten, und zwar in sei­ner grau­sa­men Vari­an­te; wäh­rend­des­sen also tauch­ten in der bunt glit­zern­den Gegen­welt des Euro­vi­si­on Song Con­test in den zurück­lie­gen­den Tagen bereits die ers­ten poten­ti­el­len Songs für Rot­ter­dam auf. Doch auch sie gaben wenig Anlass zur Hoff­nung, dass es 2021 irgend­wie bes­ser wer­den möge. Ganz im Gegen­teil: quält man sich am Stück durch die am Sams­tag ver­öf­fent­lich­ten 24 Titel der Eesti Laul 2021, so bekommt man eine vage Vor­stel­lung davon, wie sich Water­boar­ding anfüh­len muss. Unter der Last des hier auf­ge­tisch­ten, bis zur völ­li­gen Uner­träg­lich­keit gene­ri­schen und ein­heit­li­chen Pop-Breis, die­ser Abfol­ge ago­nie­aus­lö­sen­der Melo­dien, die­ser voll­stän­di­gen Abwe­sen­heit jeg­li­cher Ideen oder Unver­wech­sel­bar­keit, zie­hen sich die seich­tig­keits­ver­seuch­ten Sekun­den dahin wie Licht­jah­re (oder wie 2020, das längs­te Jahr in der Gesich­te der Mensch­heit). So lan­ge, bis man inner­lich kapi­tu­liert und sich nichts drin­gen­der her­bei­sehnt als die (hier nun) süße Erlö­sung durch den Tod.

Möch­ten Sie die­sen bei­den Her­ren nachts in der Unter­füh­rung begeg­nen? (EE)

Ledig­lich zwei der 24 Eesti-Laul-Bei­trä­ge las­sen einen kurz auf­hor­chen, auf die eine oder ande­re Wei­se. Da ist zum einen das durch­ge­knall­te ‘Tar­tu’, in dem zwei mit­tel­al­te Her­ren, die offen­sicht­lich von den fal­schen Sub­stan­zen nasch­ten, zu einem aggres­si­ven Elek­tro-Punk-Musik­bett gna­den­reich kur­ze zwei Minu­ten lang einen rela­tiv mono­to­nen Text her­aus­brül­len, in dem sie eine Rei­he est­ni­scher Käf­fer auf­lis­ten und die­se aus­nahms­los als “höl­zern” denun­zie­ren. Mit einer Aus­nah­me, näm­lich der namens­ge­ben­den Stu­den­ten- und Han­se­stadt, mit knapp unter hun­dert­tau­send Einwohner:innen die zweit­größ­te Gemein­de des Lan­des. Die­se sei, so die bei­den merk­wür­di­gen Her­ren, “freund­lich”. Etwas weni­ger rät­sel­haft erscheint einem das Gese­he­ne indes, wenn man weiß, dass es sich beim Duo Redel um zwei Mit­glie­der der Band Win­ny Puuh han­delt, die 2013 mit dem glo­rio­sen ‘Mei­e­cundi­mees üks Kor­sa­kov läks eile Lät­ti’ den unein­hol­bar geils­ten Vor­ent­schei­dungs­bei­trag aller Zei­ten und Natio­nen ablie­fer­ten. Gegen die­sen fällt ihr aktu­el­ler Ver­such sogar ver­gleichs­wei­se zahm aus, im Grau­ens­sumpf des dies­jäh­ri­gen Eesti-Laul-Umfel­des indes hebt er sich so unter­halt­sam her­vor, dass man ihnen aus purer Dank­bar­keit frei­wil­lig die ers­te Coro­na-Imp­fung über­las­sen möch­te. Lebensretter!

Auch bei Ala­ba­ma Watch­dog bewahr­hei­tet sich die eher­ne Rock-Regel: die geils­te Sau in einer Band ist stets der Drummer!

Für Kon­tro­ver­sen sorg­te der Bei­trag ‘Ala­ba­ma Watch­dog’ der gleich­na­mi­gen Kap­pel­le rund um den Front­mann Ken Ein­berg. Gar nicht mal musi­ka­lisch, obschon Ala­ba­ma Watch­dog straigh­ten Rock ser­vie­ren, eine bei Grand-Prix-Fans nicht son­der­lich belieb­te Gat­tung. Nein, es geht um den Text. Der han­delt in recht rup­pig-mar­tia­li­scher Wei­se von dem “einen Pro­zent”, einer “wach­sen­den Lüge”, von “Gewalt” und einem “kom­men­den Krieg” sowie von der “Pla­ge” und dem “Lock­down”, beschreibt also die ein­gangs skiz­zier­te, depri­mie­ren­de Rea­li­tät. Aller­dings singt Ein­berg auch: “I’m a simp­le man, wan­na see what’s wrong from right / But nowa­days they label that as ‘left’ or ‘right’ ”. Was, mal abge­se­hen vom fau­len Reim, sehr leicht in den fal­schen Hals zu bekom­men ist, denn die art­ver­wand­te Behaup­tung “ich bin weder links noch rechts” kommt erfah­rungs­ge­mäß in den aller­meis­ten Fäl­len aus dem Mun­de von Rechts­extre­men. Und so stel­len bereits die Ers­ten die Band in die Ecke der Coro­na­leug­ner. Noch grö­ßer ist die Auf­re­gung um den zwei­ten Vers, der da lau­tet: “The­re ain’t no girls if they’­re plug­ged online / If they eat tho­se pills and the hor­mo­nes fly”. Trans­feind­lich­keit lau­tet der Vor­wurf, und tat­säch­lich fällt es (mir) hier schwer, eine wohl­wol­len­de Les­art anzu­wen­den, denn anders als Beschwer­de über “unech­te”, hor­mon­pil­len­fres­sen­de Trans­frau­en macht der Text kaum Sinn. Und so wirkt die gan­ze Num­mer, obwohl sie viel­leicht völ­lig anders gemeint ist, sowohl ästhe­tisch wie inhalt­lich dann doch irgend­wie ganz schön weit rechts.

Lei­der nur als Lyric-Video (mal schau­en, wie lan­ge): ‘Ue la la’, einer der neun Songs für Eden Ale­ne (IL).

Neun Lie­der hat der israe­li­sche Sen­der KAN für sei­ne Ver­tre­te­rin Eden Ale­ne kom­mis­sio­niert, einer der zahl­rei­chen bereits für 2020 aus­ge­wähl­ten und nach der coro­nabe­ding­ten Absa­ge des Wett­be­werbs nun fürs kom­men­de Jahr bestä­tig­ten Sänger:innen. Unter die­sen neun Songs darf das hei­mi­sche Publi­kum in einer Online-Abstim­mung zwei für das Songfi­na­le am 25. Janu­ar 2021 bestim­men, einen drit­ten wählt eine Jury aus. Und es bestä­ti­gen sich die Befürch­tun­gen: nach dem Durch­hö­ren der (bis­lang nur als Demo-Ver­sio­nen vor­lie­gen­den) Titel kann kei­ner Edens desi­gnier­tem Vor­jah­res­bei­trag ‘Feker Libi’ das Was­ser rei­chen. Am ehes­ten gelingt das noch dem mehr­spra­chi­gen Upt­em­po-Ban­ger ‘Ue La La’. Aller­dings scheint KAN kein Inter­es­se am Zuspruch der inter­na­tio­na­len Fans zu hegen: auf der Sen­der­web­site las­sen sich die Songs dank Geo­blo­ckings nicht abspie­len, und auf You­tube löscht der Sen­der die von Fans hoch­ge­la­de­nen Vide­os rei­hen­wei­se wegen “Urhe­ber­rechts­ver­let­zung”. Gut, mer­ken wir uns, dann gibt es nächs­tes Jahr halt kei­nen Anruf im Tele­vo­ting für Isra­el. Wenn ihr lie­ber den Punk­te­tod sterbt als vor­aus­schau­en­de Fan-Arbeit zu leisten…

26 Song­per­len: die Bei­trä­ge des 59. Fes­ti­vali i Kën­gës als Audio-Playlist.

Um mit einem eini­ger­ma­ßen ver­söhn­li­chen Aus­blick zu enden, wol­len wir uns abschlie­ßend der bereits über­nächs­te Woche anste­hen­den ers­ten Euro­vi­si­ons­vor­ent­schei­dung der Sai­son zuwen­den, dem tra­di­ti­ons­rei­chen alba­ni­schen Fes­ti­vali i Kën­gës. Des­sen 59. Aus­ga­be soll ab dem 16. Dezem­ber 2020 an drei Aben­den hin­ter­ein­an­der in Tira­na aus­ge­tra­gen wer­den – wegen Coro­na aller­dings erst­mals nicht im Kon­gress­pa­last, son­dern als Frei­luft­ver­an­stal­tung auf dem Platz davor, dem She­shi Ita­lia. Da schei­den dün­ne Abend­kleid­chen dies­mal wohl aus! Trotz drei­er Sen­dun­gen gibt es kein Semi: in den bei­den ers­ten Shows tre­ten jeweils alle 26 (!) bereits seit Mit­te Novem­ber vom Sen­der RTSH ins Netz gestell­ten Bei­trä­ge (sie­he und ler­ne, KAN!) an, ein­mal mit vol­ler Orches­trie­rung und ein­mal als Akus­tik­ver­si­on. Unter den Fans scheint sich der fili­gran-kraft­vol­le Eth­no-Pop-Song ‘Vas­hë­zo’ von Rose­la Gjyl­be­gu als Favo­rit her­aus­zu­kris­tal­li­sie­ren, wobei das ohne Belang ist, denn bekannt­lich ent­schei­det die berüch­tig­te alba­ni­sche FiK-Jury nach ganz eige­nen Gesichts­punk­ten. Und die Kon­kur­renz ist groß, fin­den sich im Fel­de doch etli­che schö­ne Lie­der. Für Men­schen wie mich, die (auch) mit den Augen hören, gehört natür­lich die lyrisch hoch­dra­ma­ti­sche, apart instru­men­tier­te Mid­tem­po­num­mer ‘Nëse vdes’ des aus­ge­spro­chen nied­li­chen Koso­vo-Alba­ners Durim Mori­na ali­as Mirud dazu.

Wenn ich ster­be’, über­setzt sich der Song. Auch hier ent­kom­men wir also nicht dem Tod. Doch die­ser ist für die (ver­schmäh­te) Lie­be, und das macht ihn irgend­wie gla­mou­rös (AL).

4 Comments

  • Ja, es sind düs­te­re Zei­ten, in denen wir leben. Aber ich bin sehr opti­mis­tisch, dass 2021 wie­der mehr Licht­bli­cke bie­ten wird (was auch im Ver­gleich zu 2020 nicht wirk­lich schwer sei­en sollte).

    Die Eesti Laul-Titel kann man mal neben­bei hören. So habe ich schon eini­ge über ESCAPE-Radio sich­ten kön­nen. War etwas erstaunt über den wohl iro­nisch beti­tel­ten neu­en Anlauf von Uku Suvis­te (“The Lucky One”). Der ist mei­ner Ansicht nach deut­lich bes­ser als die­se Schlaf­ta­blet­te namens “What Love is”, aber den­noch hof­fe ich, dass die Esten ihn die­ses Mal wie­der verhindern.

    Bei Isra­el habe ich wenig Hoff­nung, aber “Feker Libi” muss­te ich auch so drei- bis vier­mal hören, bis ich ihn auf die Sei­te der guten Bei­trä­ge 2020 legen konn­te. Dage­gen bin ich sehr gespannt, was die Alba­ner schi­cken. Freue mich schon etwas auf die Open Air-Atmo­sphä­re beim FiK kurz vor Weihnachten.

    Und jetzt noch eine Fra­ge: Ich weiß von ihren zahl­rei­chen Ein­trä­gen, dass sie in den letz­ten Jah­ren kein gro­ßer Fan des Melo­di­fes­ti­valen gewe­sen sind, aber was sagen sie denn zu dem vor kur­zem ver­öf­fent­lich­ten, ich nen­ne es mal “All-Star”-Line-up, wel­ches der Herr Björk­mann zu sei­nem letz­ten Mel­lo auf­ge­stellt hat? Sind zwar bis­her nur Namen, aber mit Dan­ny Sau­ce­do und Eric Saa­de als Kan­di­da­ten kom­men doch sicher Erin­ne­run­gen an die gute, alte Zeit auf, oder?

  • Lei­der wahr, Est­land scheint wirk­lich das neue Däne­mark zu sein: Nix außer Main­stream-Schlonz. Nur in Alba­ni­en wird noch stan­des­ge­mäß geschrie­en und gejam­mert – so gehört sich das auch für ein ordent­li­ches FiK-Date!

  • Mein High­light bei die­sen Neu­vor­stel­lun­gen ein­deu­tig Redel.
    Ich hab die vor ein paar Tagen gehört, war nicht schlecht, vom Sty­ling ein bissl wie die Est­ni­schen Seiler&Speer.… aber nach­dem ich das hier noch­mal mit dem über­setz­ten Text zusam­men gehört hab hats mich echt umge­hau­en! Man stel­le sich vor, der NDR schickt einen Song zum VE, bei dem Wup­per­tal, Ulm und Hil­des­heim als höl­zer­ne Städ­te beschrie­ben wer­den, von denen man sich einen Sprei­ßel im Arsch einfängt 🙂
    Noch ist Est­land nicht verloren!

  • Est­land habe ich mir bis­lang wei­test­ge­hend erspart. Halb­wegs inter­es­sant fin­de ich Hele­za mit einem melan­cho­li­schen Titel in Est­nisch und Fran­zö­sisch. Ich per­sön­lich habe übri­gens gar nichts gegen Rock beim ESC.

    Zu Alba­ni­en: Der schrägs­te Typ ist zwei­fel­los Kas­tro Zizo (obwohl ich gar nicht auf Tat­toos ste­he). Lei­der wird auch er chan­cen­los sein. Es wird wohl erneut auf das jury­kom­pa­ti­ble Paket hin­aus­lau­fen und da tip­pe ich auf Inis Nezi­ri. Natür­lich dann wie­der in einer auf eng­lisch umge­tex­te­ten Ver­si­on für den ESC. Kann das nicht mal jemand verbieten ?

    Mir gefal­len auch sehr Orgesa Zai­mi, Xhes­ika Polo und Fatos Shaba­ni. Mirud wäre auch eine gute Wahl, aller­dings hat er sich mit einem Bar­ba­ra-Dex-Award-ver­däch­ti­gen Kos­tüm lächer­lich gemacht.

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