Neben den beiden Katastrophen-Vorentscheiden in Norwegen und Spanien verwöhnte am gestrigen Supersamstag Finnland die Eurovisionsfans mit einer rundherum hochwertigen Show und einem hochgradig erfreulichen Ergebnis. Sieben Beiträge versammelte die UMK 2021, mindestens die Hälfte davon eines Sieges würdig, und am Ende gewann sogar der richtige. Lob und Anerkennung verdient der Sender YLE außerdem dafür, das letztjährige, nach wie vor unverzeihliche ‘Cicciolina’-Gate nicht totzuschweigen, sondern ganz im Gegenteil mit der Einladung der seinerzeit so schändlich von den Jurys gemobbten Erika Vikman als Eröffnungsact sowie einer hochgradig lustigen Comedy-Routine mit ihren beiden Bären als Pausennummer aktive Erinnerungs- und Wiedergutmachungsarbeit zu leisten. Mich zumindest konnte diese Sendung ein kleines bisschen versöhnen, auch wenn die Bitterkeit über die wohl schlimmste Fehlentscheidung in der gesamten Grand-Prix-Geschichte nie ganz weggeht. Zu den gezogenen Lehren aus dem letztjährigen Fiasko gehörte, den Einfluss der internationalen Jury auf 25% zu begrenzen, und auch, wenn es diesmal überhaupt keine Rolle für das Gesamtergebnis spielte, kann ich nur hoffen, dass die EBU sich für den Eurovision Song Contest hieran ein Beispiel nimmt.
Verfall und Vergänglichkeit: Danny machte sich mit diesem Song unsterblich.
Mit weitem Abstand auf dem letzten Platz landete völlig zu Recht die Estin Laura Põldvere, die man trotz zweier Eurovisionsteilnahmen für ihre Heimat bei der zeitgleich stattfindenden Eesti Laul wohl nicht wollte und die sich daher auf die Fähre von Tallin nach Helsinki schwang, um ihren halbgaren Murks namens ‘Play’ nun eben ein Land weiter zu verklappen. Schade war es dagegen um das schlechte Abschneiden der 78jährigen finnischen Schlagerlegende Ilkka Johannes Lipsanen alias Danny. Der zeitweilige Lebensabschnittspartner der eingangs erwähnten, 50 Jahre jüngeren Erika Vikman, der uns 1978 mit ‘I wanna love you tender’ das wohl großartigste Musikvideo aller Zeiten und Galaxien bescherte und der es schon unzählige Male beim finnischen Vorentscheid versuchte, lieferte mit ‘Sinä päivänä kun kaikki rakastaa mua’ einen tief bewegenden, so eigenironischen wie tränentreibenden Begräbnissong. In ‘Der Tag, an dem mich alle lieben’ erzählte der nach einer mehr als fünf Dekaden umspannenden Musikerkarriere ausgesprochen verwittert aussehende Künstler auf gallig-lakonische Art von seiner eigenen Beisetzung. Und auch, wenn die tiefe emotionale Wucht seines Textes unter dem etwas wackeligen Live-Gesang ein bisschen litt, so muss man doch den Hut in Demut ziehen vor diesem vorbildlichen, entspannten Umgang mit der eigenen Vergänglichkeit.
Ich müsste lügen, wenn ich sagte, dass mich diese Nummer von Oskr besonders bewegte. Aber zum Nebenbeihören ist sie nett.
Zu den besonders erfreulichen Momenten des Abends, ach was: des Jahrgangs, zählte das schlechte Abschneiden von Aksel Kankaanranta, dem singenden Mops, der (man kann es nicht oft genug betonen) letztes Jahr mit Hilfe der Jury der fantastischen Erika Vikman den verdienten Sieg stahl, was ich ihm in einer Million Jahre nicht verzeihen kann. Um sicher zu gehen, dass sich ein Solches nicht wiederholt, setzte ihn YLE nicht nur an die zweite Startposition, sondern stellte ihm mit dem Singer-Songwriter Oskr (bürgerlich: Oskari Ruohonen) und seiner selbst komponierten Trennungsschmerzballade ‘Lie’ einen kompetenten Konkurrenten gegenüber. Mit dem so erwartbaren wie tatsächlich eingetreten Effekt, dass sich die Stimmen der Balladenfreunde sowohl in den Jurys als auch beim Publikum gleichmäßig auf beide Acts verteilten und diese mit nur wenigen Punkten Abstand voneinander im unteren Mittelfeld landeten. An ihnen vorbei zog die gebürtige Berlinerin Ilta Elina Fuchs mit einer weiteren jammerigen Klavierballade, welche sie an einem Flügel sitzend vortrug, den sie offensichtlich kurz zuvor aus einer Häckselmaschine rettete.
Mars attacks in der Mikrowelle: die Teflon Brothers brachten ihre Hirne zum Glühen. (Plus Playlist mit allen Beiträgen.)
Schon während der Jury-Abstimmung zeichnete sich jedoch ab, dass die wahre Musik bei diesem UMK wo ganz anders spielen sollte. Im Duell um den Sieg zog das Elektro-Hip-Hop-Trio Teflon Brothers den Kürzeren. Die finnischen Deichkind hatten sich für ihren supereingängigen Partykracher mit der mantraartigen Hookline ‘I love you’ die schwedische Eurodance-Ikone Anneli Magnusson alias Pandora zur Verstärkung geholt und für die Performance ein neonbuntes Bühnenbild mit einem Raumschiff, einer Mikrowelle und leuchtenden Gehirnen inszeniert. Dieser Saara-Aalto-Approach überdeckte jedoch eher die geniale Simplizität ihrer druckstarken Nummer, die mich stets in hysterische Tanz-Ekstase versetzt, wenn sie ungefähr neun Mal am Tag auf ESC Radio läuft. Doch letztlich war der Durchmarsch der Hardrockkapelle Blind Channel ohnehin nicht zu stoppen. Die erstmals auf dem Wacken-Festival 2014 in Erscheinung getretene Band, die bereits im Jury-Voting abräumte, vereinte insgesamt knapp drei Mal so viele Stimmen auf sich wie die Teflon Brothers und bringt nun melodisch-poppigen Metal mit vielen gutturalen “Huh! Huh! Huh!”-Rufen zum Song Contest.
Sind es Limp Bizkit? Sind es P.O.D? Sind es Korn? Nein, es sind Blind Channel.
Dabei harmoniert die aggressiv-energiegeladene musikalische Stimmung von ‘Dark Side’ perfekt mit dem düsteren Songtext, der von ausgestreckten Mittelfingern, Besäufnissen und dem Wunsch, nicht erwachsen zu werden, handelt sowie den Klub 27 glorifiziert, also die imaginäre Vereinigung all der Rockstars, die ihrem Leben durch übermäßigen Drogenkonsum oder dem Freitod schon in frühen Jahren ein vorzeitiges Ende setzten. Was für eine erfrischende Abwechslung von den beim Grand Prix noch immer üblichen, angesichts der realen Geschehnisse jedoch immer unerträglicheren Heile-Welt-Botschaften! Zwar kann ‘Dark Side’ bei Weitem nicht mit dem intelligenten Nihilismus von Hatari mithalten, den letzten Fürsten der Finsternis beim Eurovision Song Contest und laut eigener Aussage einer der Vorbilder der Finnen, dennoch erscheint mir ihre Fick-dich-Attitüde wesentlich konstruktiver als all der sinnlose Seich aus der schwedischen Schlagerschule, der sonst so die Vorentscheidungen verstopft. Schade nur, dass sie die Nummer nicht in Landessprache bringen, klingt doch kein Zungenschlag so gangstermäßig und eignet sich so gut zum Fluchen wie das Finnische!
https://twitter.com/Herainia/status/1363227393381523456
Dem gibt es nichts hinzuzufügen: Finnland rockt!
Hervorragend auch das Rahmenprogramm des UMK 2021, hier mit dem erkennbar zur Familie gehörenden Moderator Antti Tuiskuu und der UMK-Legende Erika Vikman.
Vorentscheid FI 2021
Uuden Musiikin Kilpailu (UMK). Samstag, 20. März 2021, aus dem Mediapolis TV Studio in Tampere, Finnland. 7 Teilnehmer:innen. Moderation: Antti Tuiskuu.# | Interpreten | Songtitel | Televote | Jury | Platz |
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01 | Teflon Brothers + Pandora | I love you | 150 | 030 | 02 |
02 | Aksel Kankaanranta | Hurt | 052 | 056 | 05 |
03 | Laura Põldvere | Play | 009 | 004 | 07 |
04 | Danny | Sinä päivänä kun kaikki rakastaa mua | 038 | 022 | 06 |
05 | Oskr | Lie | 053 | 062 | 04 |
06 | Blind Channel | Dark Side | 479 | 072 | 01 |
07 | Ilta | Kella mä soitan | 101 | 048 | 03 |
Und da stimme ich doch glatt zu! Wirklich ein toller Beitrag, den die Finnen da rausgepickt haben. Bringt eine völlig neue Farbe in diesen noch jungen Jahrgang. Mit den Teflon-Brothers hätte ich aber durchaus auch leben können, aber für die Genre-Vielfalt beim ESC ist Blind Channel die beste Entscheidung.
Aber warum können Sie dem guten Axel nicht verziehen? Er kann doch nichts dafür, dass die internationalen Jurys sein Lied letztes Jahr am besten fanden. Die Schuld liegt hier mal wieder einzig und alleine beim Jury-Televoting-Mix, würde ich sagen!
Es ist alles gesagt und Oliver hat mal wieder alles richtig eingeordnet. Der Sieg für Blind Channel war das einzig richtige, auch wenn es mir um die schönen Balladen (Ilta, Oskr und Danny) leid tut. Kommt letztes Jahr die Auswahl von Aksel auch nicht verstehen und obwohl ich nicht der allergrößte Fan von campen Beiträgen bin, Erika war letztes Jahr (so auch dieses Jahr als Stargast) klasse und hätte den Sieg verdient gehabt. Obwohl ich Landessprachen-Purist bin, für mich ist es i.O. Dass der Song auf Englisch ist, denn „ laita keskisormi ylös“ hätte vielleicht nicht die gleiche Durchschlagskraft wie „put your middlefinger up“.
@ESClucas: Ja, das ist mir schon bewusst, dass Aksel der falsche Adressat für meinen Groll ist. Allein, auf Juror:innen schiebe ich ja schon seit jeher einen Hals, für diese besonders profunde Ungerechtigkeit braucht es für mein Seelenheil einen persönlich haftbar zu machenden Schuldigen, und wer läge da näher als Aksel selbst? Ich weiß, das ist sinnlos und falsch, und natürlich kann Herr Kankaanranta persönlich nichts dafür. Aber der Verstand sagt das Eine, mein Herz etwas Anderes, und so kann ich in diesem Punkt leider (noch) nicht über meinen Schatten springen. Natürlich wünsche ich ihm alles Gute, aber dass er gestern abgeschmiert ist, freut die schwarze Seite meiner Seele trotzdem.
Alles richtig gemacht, Finnland! Cleverer Wettbewerbstitel, der aus dem Feld heraussticht, sich nicht anbiedert, und trotzdem nicht zu abgefahren oder gar etwas ins Lächerliche klingt. Die Gefahr wäre eher bei den – durchaus Laune machenden – Zweitplatzierten gewesen.
Aber hier höre/sehe ich einen Top 10-Titel.
Liebe Finnen, ihr könnt doch nicht so einen Hochkaräter Vorentscheid raushauen während eure skandinavischen Brüder und Schwestern an akuter musikalischer Anämie leiden?
Gebt doch etwas ab, einen Danny an Dänemark und etwas Teflon Songbeschichtung an Schweden z.B.!