Ein extrem seltenes Kunststück brachte das litauische Fernsehen LRT mit der gestrigen dritten und letzten Vorrunde des Vorentscheidungsformats Pabandom iš naujo fertig. Zwölf Beiträge präsentierte man der Weltöffentlichkeit – darunter nicht ein einziger (!), der den hiesigen Blogger aktiv genervt oder gelangweilt hätte. Selbst die schlechtesten der ein Dutzend Songs erwiesen sich noch als mindestens annehmbarer, in weiten Teilen jedoch genüsslicher Hörspaß, wozu auch das vorbildlich ausgewogene Verhältnis von lediglich einer Ballade zu elf uptemporären, meist elektrolastigen Stücken entscheidend beitrug. Sowie die Inszenierungen: wo nicht exquisite Tanzchoreografien und ein augenscheinlich ziemlich verbindlicher Dresscode ein erstaunlich hochwertiges visuelles Vergnügen sicherstellten, da drehten die beteiligten Acts zumindest den Weirdness-Faktor auf elf und sorgten so für den angenehmen, leichten Gruselschauer, für den Grand-Prix-Connaisseure den litauischen Vorentscheid so sehr lieben. Am erstaunlichsten jedoch: am Ende des Abends stimmten die sonst notorisch über Kreuz liegenden heimischen Zuschauer:innen und die fünfköpfige LRT-Jury in ungewohnter Eintracht überein und bestimmten Monika Liu und ihr hervorragendes Neo-Chanson ‘Sentimentai’ zur Viertelfinalersten (und potentiell heißesten Anwärterin auf den PIN-Gesamtsieg). Eine exzellente Wahl!
Hinter den Kulissen von Paris: Monika Liu.
Die studierte Jazzsängerin Liubinaitė ließ im glamourösen, rückenfreien Abendkleid und mit zeitlosem Bobschnitt Erinnerungen an Ireen Sheer beim ESC 1978 und an Mireille Mathieu wach werden und überzeugte mit einer ebenso lässigen wie kontrollierten Performance zu ihrem in Landessprache vorgetragenen Song, der auf musikalischer Ebene nostalgisch-frankophile Eleganz mit angenehm verschleppten elektronischen Beats und witzigen, retrosatten Endsiebziger-Disco-Soundeffekten wie der Syndrum zu einem absolut hinreißenden Gesamtpaket verschnürte. Enchanté! Nicht weniger Begeisterung entfachte die Televoting-Zweite und bereits durch das Zerteilen unschuldiger Wassermelonen beim litauischen Vorentscheid von 2017 in liebevoller Erinnerung gebliebene Kunstfigur Lolita Zero. Sehr zutreffend bezeichnete ein Twitter-User ihren Auftritt als “den besten Acid-Trip meines Lebens”: zu einem so abgefahrenen wie minimalistischen Elektrotrack belferte der statisch auf einem kleinen Podest stehende und als androgynes Panwesen ausstaffierte Gytis Ivanauskas (alias Zero) uns entgegen, dass er ‘Not your Mother’ sei, während ihn Lenas Silberfische von 2011 lustig umschwärmten. Ein alptraumhafter Horrorschrei in der Mitte des Songs rundete das Gesamtkunstwerk ab. Großes Kino!
Tanz den Horn: nur jemand vom Format einer Lolita Zero kann noch immer “Desire” auf “Fire” reimen und damit davon kommen.
Die in den beiden vorangegangenen PIN-Vorrunden noch durchgängig üblichen massiven Ergebnisabweichungen zwischen Jury und Televoting manifestierten sich diesmal lediglich bei der litauischen Eurovisionsrepräsentantin von 2014, Vilija Matačiūnaitė (‘Attention!’), die sich im bauchfreien weißen Powerdress und mit einer ohne Verschnaufpause durchgezogenen Luftgreif-Handography an die heuer für fast allen Teilnehmenden geltenden Vorgaben hielt. Die Jury zeichnete ihre schöne, sphärische Elektronummer ‘Šimtas ir vienas’ (in Zahlen: ‘101’), die beim Publikum erstaunlicherweise komplett durchfiel, mit der Silbermedaille aus, was insgesamt noch für einen (absolut verdienten) Semfinalplatz reichte. Wobei die hohe Qualität der gestrigen Auswahl das Ranking erschwerte: “Na toll, habe 5 Gewinner:innen” stellte nicht nur Bloggerkollege NicoLasVegas vor der Abstimmung fest. Schade ist es beispielsweise um das druckvolle ‘Nepaleidi’ von Vasha, die sich beim Outfit und dem Staging ebenso subtil an der verhinderten ukrainischen Gesangssirene Maruv orientierte wie ihre letztplatzierte Konkurrentin Emilija Valiukevičiūtė. Die beging beim musikalisch nicht minder poppigen ‘Overload’ gleich zwei Kardinalfehler: sie sang – wenig überzeugend – auf Englisch. Und sie verzichtete auf Tänzer.
Hinfort mit Euch, ihr schwarzgewandten Schergen: Vasha weiß sich gegen Aufdringlinge zu wehren.
Verständlicher erscheint das Ausscheiden hingegen beim Teilnehmer Vladas Chockevičius, der gemeinsam mit seinem Bruder Paulius und dem Gitarristen Vaidas Plytnikas die für Partys buchbare Band Mėnulio Fazė (Mondphase) bildet, unter dem selben Namen aber auch solo auftritt. Wie das Pseudonym und Vladas’ Manbun bereits vermuten lassen, scheint der junge Künstler dem Spirituellen zugeneigt: “die am häufigsten berührten Themen in seinen Werken sind Liebe, Licht, Positivität, Alltag und die innere Welt,” verrät seine Homepage. Vor lauter Innerlichkeit bekam er jedoch scheinbar den Dresscode nicht mit und trat in äußerst legeren Jogpants und Jeansjacke an, ein eher für die Pandemie-Quarantäne passendes Outfit, dass sich zwar eins zu eins an einem der fünf PIN-Juror:innen widerspiegelte, ihm aber trotzdem nur wenig Punkte erntete. Was auch an seiner merkwürdig dauergeduckten Körperhaltung oder seinem etwas rauen Gesangsstil gelegen haben mag. Vielleicht sollte er es mit seinem durchaus pläserablen Elektropopstück ‘Give me a Sign’ mal bei den lettischen Nachbarn probieren, steht es doch durchaus in der Tradition von solchen Beiträgen wie Triana Parks ‘Line’ von 2017.
Spätestens mit 40 sind die Knie hinüber: Vladas bewegt sich auch in anderen Videoclips immer in der halben Hocke.
So viel gäbe es noch zu besprechen, wie beispielsweise die possierlich umherhüpfende Geleibra oder die bereits zum dritten Mal angetretene, blonde Schlagertante Živilė Gedvilaitė, die mit schmerzhaft hoher Schrillstimme durch den Schwedenschlager ‘Lioness’ pflügte, für den die verantwortlichen Persson-Schwestern einfach die Musik von ‘Only Teardrops’ und den Text von ‘Run with the Lions’ durch einen Mixer gejagt hatten. Doch wir müssen uns leider noch mit dem zweiten Event des gestrigen Abends befassen, der zweiten Vorrunde des norwegischen Melodi Grand Prix. Und die geriet einmal mehr zum Komplettfiasko. Im ersten der beiden Duelle bekriegten sich eine sehr unangenehm überbetonende Rockröhre mit dem putzigen Pippi-Langstrumpf-Namen Lily Löwe (und einem extrem geilen Drummer!) sowie ein mumpsbäckiger Countrybarde namens Steffen Jakobsen; im zweiten ein fader Tooji-Klon namens Daniel Lukas und eine depressiv jaulende Anzuglesbe namens Farida, deren düster-zäher Langweilerpropfen ‘Dangerous’ als schlechteste aller verfügbaren öden Optionen naturgemäß die Chose gewann. Und zwar trotz der offensichtlichen Red Flag in Form eines brennenden Klaviers als Bühnenelement. Das brachte bekanntlich bereits den Österreicher:innen 2015 die Null-Punkte-Schmach. Lernt ihr denn gar nichts, Norweger:innen?
Von so tiefen Stimmen und so einer Rückung werde ich normalerweise feucht im Schritt, aber dieser schwitzende Freizeitcowboy legt mich sehr schnell wieder trocken.
Guten Abend aus Offenbach !
Litauen hat mit dem gestrigen Abend so gerade noch die Kurve gekriegt und starke Songs ins Halbfinale gewählt, die musikalische Einfallslosigkeit erwartet uns dann in Irland und Malta. Ich teile die Meinung des Hausherrn zu “Sentimentai”. Wunderbarer Retrosound in Litauisch, Monika Liu bot einen hochprofessionellen Auftritt in einem Guss, daran können sich manche Möchtegernsternchen gerne ein Beispiel nehmen. Sie muß nach Turin, sie wäre eine würdige Nachfolgerin für The Roop !
Es wäre dann der erste landessprachliche Beitrag des Bernsteinlandes seit 1999.
Bei Lolita Zero war ich anfangs etwas verstört, mittlerweile weiß ich diese zukunftsweisende Performance zu schätzen. Selbst ohne Frau Liu würde es aber wohl nicht zum Sieg reichen, dafür ist Litauen doch noch zu konservativ.
Dagegen war Norwegen extrem enttäuschend. Bei “Dangerous” bekam ich ganz schlimme Zustände. Zum x‑ten Mal ein lauer Bond-Aufguss, die Aussprache klang total verwaschen und die Töne wurden nicht getroffen. Dann schon lieber konsequenterweise einen professionellen Beitrag in Landessprache (Monika Liu hat es vorgemacht).
Die käsige Schnulze von Herrn Ingebrigtsen kann es wohl auch nicht sein, in den Neunzigern unter der irischen Flagge hätte es vielleicht noch funktioniert. Ich bin eh für den Bananensong, diese ganzen pseudomodernen, krampfhaft auf international getrimmten gehen mir immer mehr auf den Senkel.
“Düster-zäher Langweilerpfropfen”, kreisch… Der Hausherr läßt es wieder mal krachen, danke !
Die Songs aus Norgähnen waren wirklich alle zutiefst ermüdend… und dabei dachte ich immer der dänische Vorentscheid wäre der ödeste.
Sehr leid tut es mir in Litauen allerdings um die SM-Domina in weiß Vasha. Sehr cooler Song und moderner Beat.
Ja, es gab schon deutlich bessere Samstage als den zurückliegenden. Sorry, aber mit Litauen werde ich nach den drei Runden nun wirklich nicht warm und Norwegen hatte auch eine schwache Runde. Das war letzte Woche schon besser.
Ach ja, ich möchte noch gerne auf einen Fehler hinweisen:
“Die Jury zeichnete ihre schöne, sphärische Elektronummer ‘Šimtas ir vienas’ (in Zahlen: ‘101’), die beim Publikum erstaunlicherweise komplett durchfiel, mit der Silbermedaille aus, was insgesamt noch für einen (absolut verdienten) Finalplatz reichte.”
Kein Finalplatz, sondern Halbfinalplatz. Litauen ist noch nicht soweit.
Jau, Norwegen war – bis auf den bärtigen Moderator – ein Totalausfall, aber auch in Litauen hat mir nicht alles gefallen, obwohl die Steigerung zu den letzten beiden Samstagen des Sedierens doch sehr angenehm war.
Gebrasy fand ich unendlich langweilig und Vilija war auch nur öde, lag vor allem am Song und natürlich auch daran, dass sie ohne ihren extrem attraktiven Begleittänzer von 2014 auftrat.
Lolita Zero mit ihrem Quasi-One-Note-Samba und selbstverständlich La Liu fand auch ich großartig.
@ESClucas98: Danke für den Hinweis, ist korrigiert.
Ging es nur mir so oder hatten andere Leser auch Probleme, in den letzten Tagen auf diesen Blog zuzugreifen? Mir wurde von Dienstag bis Freitagmittag immer angezeigt, dass es “einen kritischen Fehler” gab.
Ach ja: Die Künstler:innen von LRT haben die Videos der dritten Pin-Runde von YouTube runtergenommen und sie später wieder neu hochgeladen. Jetzt sind hier lauter tote Links drin.
Hallo Oliver,
ich hatte mir schon fast Sorgen gemacht, weil deine Seite ein paar Tage nicht zu erreichen war.
Ich hoffe, es war tatsächlich nur ein technisches Problem?
Liebe Grüße
ag9
Dieses “not your mother” von dieser/diesem Lolita Zero ist ja wohl das Grauen in Nöten. Wenn sowas in Deutschland vorgeführt werden würde, wäre der Shitstorm ziemlich groß. Wieso dieser vertonte Furz weitergewählt worden ist, bleibt das Geheimnis der Litauer. Aber jeder blamiert sich natürlich so gut er kann. Nee, das ist nix für mich. Wenn das nach Turin fahren darf, wird dieses “Lied” höchstens die besten Plätze im Kuriosenkabinett belegen und den Ruf des ESC als Trashwettbewerb bestätigen. Deshalb lieber nicht.