Da hatte das spanische Fernsehen, wohl noch auf der Erfolgswelle des zweifachen Eurovisionssieges in Folge surfend, aber wirklich aufgefahren beim zweiten Festival de la Canción Española zu Madrid, das als Vorentscheid für den Wettbewerb in Amsterdam diente: 20 Lieder, dargeboten in jeweils zwei Fassungen von unterschiedlichen Interpret:innen, stellten sich in einem dreitägigen Marathon dem Urteil von 15 regionalen Jurys. Zehn davon siebte man zunächst in einem Halbfinale aus, unter anderem den Schmachtfetzen ‘Esa será mi Casa’ (‘Das wird mein Haus’), vorgetragen von am Beginn einer kurzen Karriere stehenden Luis Manuel Ferri Llopis alias Nino Bravo. Der sollte sich mit etlichen Teilnahmen an internationalen Liederfestivals und Tourneen eine große Popularität vor allem im lateinamerikanischen Raum erarbeiten, wo sein noch schmachtfetzigeres ‘Te quiero, te quiero’ aus dem gleichen Jahr zum Evergreen wurde. Bravo veröffentlichte es als Single, mit ‘Esa será mi Casa’ als B‑Seite. Auch das 1969 aus dem baskischen Schwesterntrio Las Hermanas Uranga hervorgegangene Oktett Mocedades scheiterte im Semi mit dem ‘Viejo Marino’ (‘Alter Seemann’), hatte aber mit dem grandprixesken ‘Un Mundo mejor’ (‘Eine bessere Welt’) noch ein zweites Eisen im Feuer, das es ins Finale schaffte.
Das Haus bewohnte Nino Bravo nicht lange: 1973 starb er im Alter von 28 Jahren bei einem Verkehrsunfall.
Dort sorgte vor allem der Vergleich der beiden Versionen desselben Liedes für Spannung: so gab das Schlagerpärchen Los Dos die ‘Balada del Maderero’ (‘Ballade vom Holzfäller’) als introvertiert interpretierten Folksong, während die als Zweitbesetzung fungierende Band Los Ochenta Centavos daraus einen schmissigen Schlager machte, zu welchem deren Frontfrau ihre frisch eindrehten Ringellöckchen pittoresk im Takt springen ließ. Mit großer Kompetenz und Aplomb performte die mallorquinische Formation Los Valldemosa, beim ESC 1969 in Teilen der Backgroundchor von Salomé, ihren mit zahlreichen Handklatschern operierenden Partyschlager ‘Fiesta’. Wobei der immanente optische Unterschied zwischen dem vollbärtigen, follikal Herausgeforderten und wie ein klassischer Busfahrer aussehenden Frontmann Rafael Estarás und seiner jüngeren und deutlich attraktiveren Co-Sängerin Margaluz sehr ins Auge stach. Rafaels Brüder unterhielten derweilen im Hintergrund mit einem sparsamen, aber effektiven Synchrontanz. Im Gegensatz dazu vergeigte der blutjunge und offenbar bühnenunerfahrene Rafa León in seiner Version permanent seine Einsätze und clashte im Refrain gelegentlich mit seinem dreiköpfigen weiblichen Begleitchor.
Ein Song mit Handklatschern ist stets ein guter Song: Los Valldemosa, hier den EBU-Regeln entsprechend als Margaluz & Rafael mit Begleitchor gelistet.
Unter den 20 Finalist:innen befanden sich zwei Schwarze Interpret:innen. Der in Panama geborene Basilio Ferguz Alexandre hatte nach dem Tod seiner Eltern ein Medizinstudium im französischen Montpellier aufgenommen und setzte dies in Madrid fort, wo er ins Musikgeschäft einstieg. Mit der eleganten Jazzballade ‘Jamás la olvidaré’ (‘Ich werde sie nie vergessen’) belegte er den zweiten Platz. 1973 vertrat er seine panamaische Heimat beim OCI-Festival, dem lateinamerikanischen Gegenstück zum Eurovision Song Contest. Er verstarb 2009 in Miami. Die in Los Angeles aufgewachsene US-amerikanische Jazzsängerin Donna Hightower war 1959 nach Europa gekommen und arbeitete in London, Paris und Madrid. 1970 wechselte sie mit ihrem Vorentscheidungsbeitrag ‘Soy feliz’ zum Pop und feierte kleinere Erfolge in Spanien. 1973 sollte ihr mit dem von ihr mitgeschriebenen Early-Disco-Soulknaller ‘This World today is a Mess’, in dem sie sich darüber beklagte, dass Hilfsbereitschaft heutzutage als Schwäche ausgelegt werde, ein europaweiter Hit gelingen, von dem sie rund eine Million Singles absetzen konnte. Nur in Großbritannien und ihrer Heimat USA veröffentlichte man das Stück nicht – vielleicht, weil dort das Konzept der Solidarität ohnehin als kommunistisch verachtet wird? Donna kehrte dennoch 1990 in die Staaten zurück und verstarb 2013 in Austin.
Die Playlist mit wenigen Semifinal- und allen zehn Finaltiteln in jeweils beiden Versionen.
Aus der Hauptstadt Madrid stammte der damals 27jährige, am Beginn einer Weltkarriere stehende Julio Iglesias de la Cueva. Der ehemalige Fußballspieler und Torhüter in der Juniorenmannschaft von Real Madrid hatte während eines 20monatigen Krankenhausaufenthaltes nach einem Verkehrsunfall, der seine Sportlerkarriere unfreiwillig beendete, seine Liebe zur Musik entdeckt. 1968 gewann er mit seinem ersten selbstgeschriebenen Song das Liederfestival von Benidorm. Mit der hier nun vorgetragenen, hochdramatischen Trennungsschmerzballade ‘Gwendolyne’ (seine damalige britische Kurzzeitgeliebte) brachte er die Herzen der Juror:innen reihenweise zum Schmelzen und räumte die Hälfte aller verfügbaren Punkte ab. Kein Wunder: Julio gurrte und schmachtete abwechselnd mit bis an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit gehender Stimmkraft und teils tränenerstickt flüsterndem Pianissimo, als ginge es um Leben und Tod. Tat es dem ebenfalls selbst verfassten Text zufolge auch: er wolle “sterben für die Liebe, sterben für sie”, bedeutete er uns bereits im ersten Vers und beklagte, auf der Suche nach seiner Seele nur “meine Einsamkeit” gefunden zu haben. Hach! Auch in Mimik und Gestik legte er sich keinerlei Zurückhaltung auf, sodass man selbst ohne Spanischkenntnisse instinktiv begriff: dem Mann war es bitter ernst. Oder er tat zumindest sehr überzeugend so.
Ein Mann am Rande des Nervenzusammenbruchs: am Ende seines Vortrags klappt Iglesias vor emotionaler Verausgabung fast zusammen. So lieben wir das!
Selbst die im Rahmenprogramm des Festival de la Canción Española interviewten Grand-Prix-Vorgängerinnen Massiel und Salomé schwärmten für Julio und seinen Beitrag. Verständlicherweise, denn wenn die Spanier:innen (so wie allerdings auch der biodeutsche Blogbetreiber) für eines empfänglich sind, dann für kitschtriefendes Pathos und überlebensgroße Gefühle. In Amsterdam dämpfte Iglesias hingegen seine Performance massiv herunter, um die an so viel Leidenschaft nicht gewöhnten Nordeuropäer:innen nicht völlig zu verschrecken. Das Konzept ging einigermaßen auf: der vierte Platz beim Eurovision Song Contest bescherte Julio zu Hause seinen ersten Nummer-Eins-Hit und machte ihn auf dem Kontinent bekannt. In Deutschland schaffte er 1972 mit ‘Un Canto a Galicia / Wenn ein Schiff vorüberfährt’ den kommerziellen Durchbruch, in Großbritannien gelang ihm 1981 mit ‘Begin the Beguine’ ein Charttopper, und den US-amerikanischen Markt knackte er 1984 mit ‘To all the Girls I’ve loved before’. Und das müssen Myriaden gewesen sein: in den Klatschpostillen begleiteten den zweimal verheirateten Iglesias, auf dessen stets ausverkauften Konzerttourneen die Frauen reihenweise in Ohnmacht fielen, der jedoch nach eigener Aussage trotz Ruhm und Reichtum unter fortgesetzten Depressionen leidet, ungezählte Stories über außereheliche Affären. Seine Söhne Julio José und Enrique führen die Pop-Tradition des Papas mittlerweile fort.
“Wenn ein Pferd vorüberschifft”: wer würde sich von diesem Schmelz in der Stimme nicht flachlegen lassen? (Repertoirebeispiel).
Vorentscheid ES 1970
Samstag, 14. Februar 1970, im Palacio Nacional de Montjuich in Barcelona. 19 Teilnehmer:innen. Moderation: Laurita Valenzuela & Joaquín Prat. 15 regionale Jurys.# | Interpreten | Interpreten | Songtitel | Jury | Platz |
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01 | Los Dos | Los Ochenta Centavos | Balada del Maderero | 06 | 04 |
02 | Jaime Morey | Rosa Maria Lobo | De pronto, tú | 05 | 05 |
03 | Los Valldemosa | Rafa Léon | Fiesta | 07 | 03 |
04 | Julio Iglesias | Rosy Armen | Gwendolyne | 37 | 01 |
05 | Rosalía | Manolo de Los Cantiros | Igual que yo | 00 | 08 |
06 | Basilio Ferguz Alexandre | Voces Amigas | Jamás la olvidaré | 13 | 02 |
07 | Cristina | Manolo Galván | Me gusta, me gusta | 00 | 08 |
08 | Luisita Tenor | Rosa María & Javier | Sí, después | 00 | 08 |
09 | Donna Hightower | Julián Granados | Soy feliz | 03 | 07 |
10 | Voces Amigas | Mocedades | Un Mundo mejor | 04 | 06 |
Letzte Aktualisierung: 10.07.2021
< Spanischer Vorentscheid 1969
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