Wäre ich bösartig, was mir natürlich (*hüstel*) fern liegt, dann würde ich deutsche Vorentscheidung anno 2005 zu einem einzigen großen Betrugsversuch erklären. Und nein, damit meine ich nicht die Manipulation der Singlecharts durch Gracia Baurs Manager und ehemaligen Xanadu-Frontmann David Brandes. Ich spreche von der Art und Weise, wie der ausrichtende NDR im Vorjahr mit einem stargespickten Vorentscheidungs-Line-up der Superlative höchste Erwartungen weckte und nunmehr, selbstverständlich erst nach dem vollständigen Abverkauf der Eintrittskarten für die Veranstaltung Germany 12 Points! in Berlin, just diese Erwartungen mit einer der blamabelsten und abgrundschlechtesten Teilnehmendenlisten der letzten fünfzig Jahre auf das Bitterste enttäuschte. Lange Zeit erwägte ich ernsthaft, das teuer erworbene Ticket verfallen zu lassen, um dem Fehlkauf nicht noch mehr Geld für die Bahnfahrkarte und das Hotel hinterher zu werfen. Nur der Umstand, dass mein bester Freund und Nicht-Eurovisions-Fan am selben Wochenende ebenfalls nach Berlin fuhr und wir über ebab ein günstiges Apartment bekamen, lockte mich dann doch noch in die Hauptstadt. Und schön wurde es, nicht wegen der grottenschlechten ARD-Show, sondern wegen des Wiedersehens mit lieben Grand-Prix-Freunden, der tollen Aftershow-Party im Sonntagsclub und der anschließenden Nacht im Berghain.
Murphys Gesetz: je höher die Erwartung, desto größer die Enttäuschung (die Playlist mit allen verfügbaren Titeln).
Die monatelang hinhaltende Stillschweigetaktik des NDR ließ vorab bereits das Schlimmste befürchten. “Wir haben eine interessante Mischung”, lautete die einzige öffentliche Äußerung des Senderverantwortlichen Jürgen Meier-Beer im Vorfeld. Auf gut Deutsch: wir haben nur Schrott. Kein Wunder: widerstandslos – ob aus himmelschreiender Inkompetenz oder komplettem Desinteresse – ließ sich die ARD von Stefan Raab, der ob des von ihm wohl als Majestätsbeleidigung erachteten achten Platzes in Istanbul für das von ihm komponierte ‘Can’t wait until Tonight’ schmollte wie ein bockiges Kleinkind (auch in dieser Verhaltensweise ganz auf der Linie seines großen Vorbildes Ralph Siegel), ihr nach Jahren des vorsichtigen Herantastens endlich gefundenes Konzept stehlen. Mit seinem nationalistischen Gegen-Grand-Prix Bundesvision Song Contest griff Raab all die jungen, verkaufsstarken, etablierten Acts ab, die aus der letzten Vorentscheidung so eine Erfolgsgeschichte gemacht hatten. Für die ARD-Vorauswahl ging es wiederum zurück in die Bedeutungslosigkeit. Was sich in einer Einschaltquote wie im Tränental der Neunzigerjahre ausdrückte. Die Folge: wie schon beim letzten Tiefpunkt von 2003 kämpften es am Ende ein Castingsternchen und Ralph Siegel gegeneinander aus. Mit bekanntem Ergebnis: The History Book on the Shelf is always repeating itself!
Die hätte ich gerne beim Grand Prix gesehen: Fettes Brot, Platz 2 beim BuViSoCo 2005.
Zu allem Überfluss führte auch noch der erkennbar inhaltlich vollkommen desinteressierte ARD-Großverdiener Reinhold Beckmann, gewissermaßen das lebende Musterbeispiel eines maßlos überschätzten, privilegierten weißen Hetero-Cis-Mannes, durch den öden Untalenteabend. Er machte das so authentisch, als zwänge man Thomas Hermanns, die Sportschau zu moderieren. Mein Lieblings-Satiremagazin Titanic forderte seine Leser:innen einstmals über einen längeren Zeitraum auf, sich bei der GEZ abzumelden, mit der stichhaltigen Begründung, (Beckmanns damaliger ZDF-Counterpart) Johannes B. Kerner sei “als Moderator überbezahlt”. Angesichts der Leistung Beckmanns an diesem Abend kann ich nur hoffen, dass die auch von meinen Gebühren finanzierte ARD dessen Gehalt auf Null kürzte. Andernfalls muss ich mir das mit der Beitragsverweigerung doch mal überlegen! Niemals in meinem ganzen Leben sah ich eine derartig schlechte, hölzerne, unglaubwürdige, uninspirierte, vollkommen kenntnisfreie und gleichzeitig brechreizerregend selbstverliebte Conférence wie die von Beinhold Reckmann bei dieser Vorentscheidung. Und dann noch alles von Stichwortkärtchen abgelesen! Hätte man nicht als Versöhnungsgeste Gotthilf Fischer den Job antragen können? Selbst der hätte das zweifelsfrei charmanter gemacht!
“Das interessiert mich”: Beckmann versus Kerner (bei Switch).
Sie merken schon, ich schweife ab, um die Beschäftigung mit den Wettbewerbstiteln hinauszuzögern. Aber es hilft ja nichts, da müssen wir jetzt durch. Die Murphy Brothers, zwei nett anzuschauende Amerikaner aus der Abteilung “Da kommt José, der Straßenmusikant”, eröffneten das Feld mit ‘Pickin’ up the Pieces’. Ob sie mit den “Pieces” auf holländische Rauchware rekurrierten, entzieht sich meiner Kenntnis – als Zuschauer:in wünschte man sich die! Der nach dem Ableben von Harald Juhnke führende Alkoholiker Entertainer Deutschlands, Udo Lindenberg, präsentierte uns anschließend seine “Muse”, die körperlich äußerst wendige holländische Schauspielerin und Rockgöre Ellen ten Damme. Udos Siebzigerjahre-Antikriegslied ‘Plattgefickt’ (für den unfassbar prüden NDR geändert in ‘Plattgeliebt’), welches das alte pazifistische Motto ‘Make Love, not War’ wunderschön vulgarisierte, bestach zumindest durch textliche Originalität. Und wäre so vermutlich niemals durch den Zensurfilter der EBU gekommen. Zumal Ellen im letzten Refrain dann doch noch das böse F‑Wort rausrutschte. Spielte aber keine Rolle: als ernsthafter Wettbewerbsbeitrag war die musikalisch ziemlich piefige, von einem leichten Leichengeruch umflorte und aus den längst vergangenen Tagen der deutschen Liedermacherepoche herübergewehte Zombienummer wohl ohnehin nicht konzipiert.
Hoch sympathischer Text, wäre da nur nicht die schlimme Musik: Ellen ten Damme.
Orange Blue (‘A Million Teardrops’), ihres Zeichens Anwärter auf den Preis für den am wenigsten originellen Bandnamen der Menschheitsgeschichte, hatten vor vielen hundert Jahren mal einen Hit mit einem Lied, das ging so irgendwie “La, la, la”. Sie werden sich erinnern. Oder auch nicht. Macht auch nix. Spätestens nach dieser Performance, bei welcher der Sänger Volkan Gaydar Baydar nölte wie eine Bergziege im Stimmbruch, konnte man die Versagerkapelle endgültig aus den Gedächtnis streichen. Königwerq, eine aus unerfindlichen Gründen in Teilen Südwestdeutschlands populäre Deutschrockband (aber dort mögen sie auch Pur), setzte auf den Schwangerschaftsbonus: ihre Frontfrau Dania stand mit Kugelbauch auf der Bühne. Das rettete ihre musikalische Steißgeburt ‘Untragbar’ ‘Unschlagbar’ zwar nicht. Doch zumindest die kleine Jonna überstand den Auftritt unbeschadet und erblickte am 4. April 2005 kerngesund das Licht der Welt. Glückwunsch! Die als Vera Viehöfer geborene Villaine (‘Adrenalin’) war eine Lesbe mit Gitarre, die schon beim Kölner CSD singen durfte, aber das darf da jeder. Sie kam erkennbar nicht damit zurecht, dass sich in den vorderen Publikumsreihen in der Treptow-Arena ausschließlich die Eurovisionsfanclubs (sprich: schwule Männer) tummelten. Verzweifelt ließ sie ihren Blick auf der Suche nach Geschlechtsgenossinnen durch die Halle schweifen, immer schön an der Kamera vorbei. Leider rauschte so ihre sehr persönliche Liebeserklärung an den Zuschauer:innen vorüber.
Jede Zelle ihres Körpers ist unglücklich: Villaine. Oh, und anscheinend sang irgendeine mir unbekannte Popstars-Trulla mit in Villaines Chor.
Bei der Allee der Kosmonauten handelte es sich nicht, wie der Name vermuten ließ, um eine ostdeutsche Formation, sondern um die unvermeidlichen singenden Glaubensbrüder. Im Vorjahr hatte die Band das Projekt Zeichen der Zeit initiiert, ein Album, auf dem 16 bekannte Acts ihren christlichen Glauben musikalisch thematisierten, darunter die Vorentscheidungsteilnehmer Patrick Nuo (2004) und Beatbetrieb (2003) sowie der bosnische Eurovisionsvertreter von 1999 und 2011, Dino Merlin. Die ausgekoppelte Allstars-Single ‘Du bist nicht allein’ erreichte Platz 8 der Charts. Nach einer Phase als harte Rockband mit Sex & Drugs & Rock’n’Roll habe sich ihnen “Gott gezeigt” und sie seien zu Christen mutiert, so erzählten sie im Einspieler. Schlimm genug, aber muss man deswegen die Umwelt mit dem eigenen Aberglauben behelligen? Und mit einem Sänger, der sich auf der Bühne gebärdet, als sei er der Heiland persönlich? So, wie er da mit ausgebreiteten Armen stand, konnte ich nicht umhin, zu rufen: “Bringt ihm endlich ein Kreuz!”. Entspannt und selbstsicher dagegen der Auftritt von Stefan Gwildis, garniert von der lustigsten Backgroundsängerinnen-Performance seit Menschengedenken. Und durchaus originell seine oxymorone Hymne an das solchen Sonnenjunkies wir mir komplett verhasste, typische Hamburger Depressionswetter, ‘Wunderschönes Grau’.
Sein Glied ist das allerschönste Glied: die Allee der Kosmonauten.
Die eigentlich vollkommen unmissverständliche Botschaft des ‘Tribute to Ralph Siegel’ beim letzten Vorentscheid, nämlich: Thank you for the Music, aber jetzt wäre der richtige Zeitpunkt für den Ruhestand, kam – wie von vorneherein zu befürchten – bei seinem altersstarrsinnigen Adressaten nicht an. Unter Pseudonym schmuggelte der Münchener das Liedchen ‘A Miracle of Love’ ein. Und, wie ebenfalls zu befürchten, schaffte es Onkel Ralph ins Superfinale. Fairerweise, wie man sagen muss, denn die auf hundert Meter gegen den Wind als Siegel-Ware erfühl‑, ertast- und erschmeckbare Nummer war das einzige (!) Lied des Abends, das man nicht drei Minuten später schon wieder vergessen hatte. Kein Wunder, kupferte er die Hookline doch von der Titelmelodie des Achtzigerjahre-ZDF-Serienhits Die Schwarzwaldklinik ab. Der im Folgejahr vom Recyclingkönig Siegel für sein schweizerisches Resteverwertungsprojekt six4one erneut verwurstete Marco Mathias (Die deutsche Stimme) und seine heurige Gesangspartnerin Nicole Süßmilch (DSDS) präsentierten das Ganze so, wie es zwei künstlerisch geknebelte Castingshow-Verlierer:innen eben können: mit der Natürlichkeit einer Kader Loth. Zu schlechter Letzt bewies die Deutschschweizerin Mia Aegerter, dass sie als Sängerin (‘Alive’) über genau so viel Talent verfügt wie als Schauspielerin Darstellerin bei GZSZ. Welche Überraschung.
Verfallsdatum abgelaufen: zwei Castingsternchen in Siegel-Soße.
Gracia Baur, die einst so tränenreich bei Deutschland sucht das Superschaf Ausgeschiedene und wegen rapider kommerzieller Erfolglosigkeit von ihrer damaligen Plattenfirma BMG rasch Gefeuerte, gewann diesen Abend zu Recht. Erwies sie sich doch als die mit Abstand professionellste Teilnehmerin, was viel über das Elend dieser Vorentscheidung aussagt. Spürbarer Siegeswillen, ein ausgesprochen freizügiges Bühnenoutfit, die seit Carola bewährte Windmaschine und ein eingängiges, von einem alten, halb vergessenen Hit (nämlich ‘What’s up’ von den 4NonBlondes) abgeschriebenes Poprockliedchen namens ‘Run and hide’: so lauteten die Erfolgsingredienzien. Dabei kam sie, wie im Vorjahr Max Mutzke, erst in letzter Minute über eine Wildcard in die Show. Die man ihr auch nicht entzog, als sich herausstellte, dass ihre Platzierung in den deutschen Verkaufscharts – Vorabbedingung für ihre Teilnahme – durch die eingangs erwähnten Eigenkäufe ihres Produzenten ermogelt wurde. Besser so: zwar landete sie in Kiew auf dem letzten Platz, blamierte uns dabei aber nicht halb so sehr wie es ein weiterer Siegel-Song getan hätte. Später, lange nachdem er die Verantwortung für den Contest abgeben hatte, räumte Jürgen Meier-Beer übrigens ein, dass aus seiner “interessanten Mischung” beim Grand Prix nicht ein Einziger auch nur den Hauch einer Chance gehabt hätte. Da stimme ich zu, aber: wo bekomme ich jetzt das Geld für meine Eintrittskarte und meine GEZ-Gebühren zurück?
“Auch von den Anderen hätte in Kiew keiner eine Chance gehabt” (JMB)
Deutsche Vorentscheidung 2005
Germany 12 Points! Samstag, 12. März 2005, aus der Treptow-Arena in Berlin. Zehn Teilnehmer:innen. Moderation: Reinhold Beckmann. Televoting mit Superfinale.# | Interpreten | Songtitel | Televote | Super | Platz | Charts |
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01 | Murphy Brothers | Pickin’ up the Pieces | n.b. | n.b. | n.b. | - |
02 | Ellen ten Damme | Plattgeliebt | n.b. | n.b. | n.b. | - |
03 | Orange Blue | A Million Teardrops | n.b. | n.b. | n.b. | 99 |
04 | Königwerq | Unschlagbar | n.b. | n.b. | n.b. | 85 |
05 | Villaine | Adrenalin | n.b. | n.b. | n.b. | 79 |
06 | Alle der Kosmonauten | Dein Lied | n.b. | n.b. | 03 | - |
07 | Stefan Gwildis | Wunderschönes Grau | n.b. | n.b. | n.b. | - |
08 | Gracia Baur | Run and hide | n.b. | 52,8% | 01 | 20 |
09 | Marco Mathias + Nicole Süßmilch | A Miracle of Love | n.b. | 47,2% | 02 | 87 |
10 | Mia Aegerter | Alive | n.b. | n.b. | n.b. | 92 |
Letzte Aktualisierung: 11.11.2022
Unter gewissen zu treffenden Vorkehrungen fand ich den Beitrag von Gracia Baur gar nicht schlecht. Mit abgedrehtem Ton zum Beispiel – denn nett anzuschauen war sie ja durchaus!
Pwah, das Grauen in Tüten!!!! Außer Stefan Gwildis’ leider vollkommen ESC-ungeeignetem Beitrag war da wirklich NICHTS, was ich mir auch nur eine halbe Minute hätte anhören wollen, Gracias Rohrkrepierer eingeschlossen. Ich glaube, es war diese Veranstaltung, nach der ich mir geschworen habe, nie mehr eine Vorentscheidung anzuschauen – und der Schwur hat bis heute gehalten! Besser ist das, wie man hier sehen kann.
Stefan Gwildis wird übrigens auch für die VE 2013 gerüchtet.
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