Der zweite Vorentscheidungssamstag des neuen Jahres liegt hinter uns, und die Parallelen zum ersten waren unübersehbar. Wie schon vor sieben Tagen liefen zeitgleich die Vorrunden des norwegischen Melodi Grand Prix (MGP) und des litauischen Pabandom Iš Naujo (PIN); wie schon vor sieben Tagen fiel dabei ein alter weißer Mann mit einem irgendwie konservativ schmeckenden Schlager durch; und wie schon vor sieben Tagen richtete sich die gesammelte Aufmerksamkeit der Fans nicht auf die Vorrundenbeiträge, sondern auf einen außer Konkurrenz vorgestellten, fix fürs Finale gesetzten Song einer erst unlängst am Eurovision Song Contest teilgenommen habenden Band, die als Anwärter für den Sieg im nationalen Finale und für eine Top-Ten-Platzierung in Rotterdam gilt. Doch der Reihe nach: im skandinavischen Königreich musste gestern Abend eine frühere Grand-Prix-Legende ihre Hoffnungen bezüglich einer Rückkehr auf die Bretter, die die Welt bedeuten, begraben: Ketil Stokkan, geboren im Jahre 1956 und damit so alt wie der Wettbewerb selbst, schied im ersten K.O.-Duell des MGP direkt wieder aus. Dabei hatte der durch seine Ode an das ‘Brandenburger Tor’ im Wiedervereinigungsjahr 1990 bekannte Sänger eigens den berühmten Hoppelschritt aus seinem ersten Eurovisionsauftritt im heimischen Bergen mit dem ikonischen ‘Romeo’ in seine ansonsten sehr bemüht-stocksteife Performance mit eingebaut, um sich bei den Fans in Erinnerung zu rufen.
Ob Ketils pinkfarbene Glitzerhandschuhe wohl als tagesaktuelle Reverenz an #BernieSandersMittens gedacht waren? Dann hätte er das Sakko aber gegen einen Parka tauschen müssen!
Das bewahrte seinen selbstgeschriebenen, hoffnungslos altmodischen Schunkelschlager ‘My Life is OK’ jedoch nicht vor dem Absturz. Zwar wartete sein Text mit geradezu klassisch grandprixeskem Gedankengut auf und erklärte ausnahmslos alle Religionen, Hautfarben, Körperformen und politischen Einstellungen für gleichermaßen in Ordnung, so als habe er vor Kurzem einen Kurs in Gewaltfreier Kommunikation besucht und dort das zugrundeliegende Mantra “Ich bin okay, du bist okay” gelernt. Und möglicherweise leide ich in unseren aktuellen Zeiten der immer stärker werdenden gesellschaftlichen Spaltung an einer Paranoia, doch irgendwie machte gerade dieser alle Differenzen glätten wollende Ansatz seinen Song für mich so verdächtig, die liedgewordene Variante von #AllLivesMatter sein zu wollen. Also der Versuch, jedwede Kritik an der Mehrheitsgesellschaft durch wolkiges Geschwätz und die Betonung von Selbstverständlichkeiten zu vereinnahmen und somit Forderungen nach Veränderung abzuwürgen. Wie Ketil im Schlussvers selbst zugibt: “No way I’ll be changing my way / My Life is okay”. Ja, als weißer Mann im Rentenalter in einem der reichsten Länder der Erde ist es das ganz sicher, aber genau das ist das Problem! Dass der Norweger optisch wirkte wie Roger Whittaker nach einer zwölfmonatigen Sahnetortendiät und seine wenigen Synchronschrittchen mit der federnden Eleganz eines Ambosses erledigte, besiegelte wohl sein Schicksal.
“What a Feeling (I am Music now) / Being’s believing (I am Rhythm now)”: Raylee mit der Neuauflage des ‘Flashdance’. Samt Choreografie.
Weiter ins MGP-Finale zog am Ende die Sängerin Raylee, die es bereits im Vorjahr bis dorthin schaffte, dann aber im Silberfinale ausschied. Ihre Performance, bei der sie sich zum Schluss über einen Stuhl drapierte, an einer von der Studiodecke herabhängenden Toilettenspülung zog und sich von einem heftigen Schwall Wasser überschütten ließ, sorgte bei jüngeren Grand-Prix-Fans für aufgeregtes Geschnatter, bei lebenserfahrenen Popkultur-Connaisseuren hingegen eher für müdes Achselzucken, klaute sie diesen optischen Gag doch eins zu eins aus dem Achtzigerjahrestreifen ‘Flashdance’, übrigens ebenso wie den hochenergetischen Synthie-Sound ihres Stückes ‘Hero’ (das möchte ich im Übrigen nicht als Beschwerde verstanden wissen!). Sympathiepunkte sammelte Raylee, als sie nach ihren beiden Auftritten – aufgrund des absonderlichen K.O.-Duell-Verfahrens musste sie sich gleich zwei Mal einnässen lassen – jeweils im Bademantel und mit einem ums tropfende Haupthaar drapierten Handtuch zur Ergebnisverlesung erschien. Und nach der Verkündung ihres Finaleinzugs bei einem kleinen Freudentänzchen auf der noch immer klitschnassen Bühne beinahe eine unfreiwillige Grätsche hinlegte. Aus welchem Grund sie sich erst über diese Vorrunde qualifizieren musste, während die etwas in die Jahre gekommene Boyband Stavangerkameratene mit ihrem extrem durchschnittlichen ‘Barndomsgater’ bereits fürs Finale gesetzt sind, bleibt das Geheimnis des Senders NRK.
Ansteckungsalarm! Hier wird der Mindestabstand nicht eingehalten, und eine Maske trägt auch keiner: Vilija Matačiūnaitė und ihr zweites Paar Hände.
Das litauische Panda-Bum is now, yo! gestaltete sich gestern als Showgewordene Chill-Out-Zone. Praktisch ausschließlich hochgradig entspannter Elektrojazz versammelte sich in der zweiten Vorrunde der baltischen Vorentscheidung. So verlangte die heimische Eurovisionsvertreterin von 2014, Vilija Matačiūnaitė, diesmal nicht brüllend unsere ‘Attention’, sondern vollführte unter dem sehr zur Stimmung ihres Beitrags passenden Projektnamen Sunday Afternoon gemeinsam mit einem beinahe schon fest mit ihr verwachsenen, ein bisschen werwolfigen Tänzer merkwürdige Armspiele über einem sphärisch-verspielten Musikbett und bat uns, die Augen, Ohren und Herzen offen zu halten. Das hatte viel Bizarres, wenn auch bei weitem nicht im selben Ausmaß wie bei der im Televoting mit einem zweistelligen Anrufergebnis am Tabellenende landenden Natalija Chareckaja alias Cosmic Bride (was ist das mit den Litauerinnen und ihrer Vorliebe für ständig wechselnde Aliase?), deren plinkernd-verstolpert-sperriger ‘Solitary Star’ ein bisschen klang wie Björk auf Pilzen. Nur niedlicher. Eine katastrophal versemmelte hohe Note mitten im Song sorgte trotz des hohen künstlerischen Anspruchs für eine Mittelfeldplatzierung in der Jurywertung, so dass es für die in zehn Meter Tüllgardine gewandete Natalija unter dem Strich nicht fürs Finale reichte.
Valentina Monetta hat angerufen und will ihre Leuchtkugel zurück: Cosmic Bride.
Als klar homophob erwies sich nämliches Gremium schließlich mit seiner Strafwertung für Gabrielė Goštautaitė, die mit dem perfekt für die Entspannungsrunde beim Yoga geeigneten ‘Freedom’ sozusagen das kommerziellste Angebot im Wettbewerbsfeld ablieferte, wofür sie die Zuschauer:innen mit Rang 5 belohnten. Der vorletzte Platz im Juryvoting sorgte für das Aus von Gabrielė, die im dazugehörigen Musikvideo beim zärtlichen Küssen mit ihrer Freundin im Campingurlaub zu sehen ist. Auf die lesbischen Untertöne hatte sie bei ihrem Liveauftritt bereits verzichtet, stattdessen schälte sie sich aus einem enganliegenden, fest über ihr weißes Hemd gewickelten Band, um damit optisch ihren Wunsch nach Freiheit von den Fesseln der gesellschaftlichen Konvention zu illustrieren. Klar, dass das bei der konservativ-rückständigen Jury auf Ablehnung stieß! Doch letztlich verblassten alle zehn Semifinalist:innen der PIN zur bloßen Staffage gegen den außer Konkurrenz im Rahmenprogramm erfolgten Gig der bereits fix fürs Finale gesetzten The Roop. Die bis zur coronabedingten Absage des Eurovision Song Contest 2020 als heißeste Sieganwärterin gehandelte Band, die beim gewissermaßen als Ersatz-Grand-Prix geltenden deutschen ESC-Finale in Hamburg mit dem genialen ‘On Fire’ denn auch gewann, folgte dem Vorbild ihrer Vorgänger, der norwegischen Publikumssieger von 2019, Keiino.
Gabrielė Goštautaitė macht den linksseitigen Hitlergruß, das Erkennungszeichen der Antifa.
Die sind bekanntlich – hier schließt sich der Kreis – im heimischen MGP ebenso fix fürs Finale gesetzt und gehen, wie auch The Roop, mit beträchtlichen Vorschusslorbeeren und maximaler Fan-Aufmerksamkeit ins Rennen um die europäische Chansonkrone 2021. Wie Keiinos ‘Monument’ wird auch The Roops ‘Discoteque’ den beinahe unmenschlich hohen Erwartungen an den Nachfolgesong gerecht und überzeugt bereits beim ersten Hören. Mit der unwiderstehlichen Aufforderung, zum treibenden Beat des Elektropoppers in der Einsamkeit der eigenen Wohnung zu tanzen, geben der charismatische Frontmann Vaidotas Valiukevičius und seine Kollegen gewissermaßen die Anleitung zur geistigen und körperlichen Gesunderhaltung trotz seuchenbedingter Selbstisolation. Und damit die Hymne zur Zeit. Natürlich liefern sie eine fabelhafte Choreografie mit etlichen schon bekannten Versatzstücken, aber auch tollen neuen Elementen, gleich mit dazu. Das vor dem heimischen Bildschirm nachzutanzen, hält fit und füllt den leeren Serotoninspeicher wieder auf. Wobei sich ‘Discoteque’ nach eigener Aussage gar nicht mit der Pandemie befasst, sondern als Hilfsmittel bei der Befreiung von den eigenen inneren Dämonen durch Selbstakzeptanz verstanden werden will. Schwerer Stoff, und dementsprechend durchzieht – genau wie bei den skandinavischen Kollegen – eine diffuse Düsternis das aktuelle Angebot, die im Kontrast zur verspielten, sorglosen Fröhlichkeit des jeweiligen ESC-Erstlingswerkes steht.
Jana Burčeska (MK 2017) hat angerufen und will ihre Hookline zurück: The Roop.
Aber die passt prima in die gegenwärtige Situation. Und schließlich sorgen die kanariengelben Bühnenklamotten von The Roop; das herausragende, beinahe schon an den diesbezüglich ungeschlagenen Meister Jean Phillipe heranreichende Augenbrauenspiel von Vaidotas und eine amüsante, vom Startrek-Vulkanier Spock abgeschaute Live-long-and-prosper-Handography für ausreichende und ansteckende Fröhlichkeit. Dass das litauische Trio, für die PIN-Performance zum Quintett angewachsen, die Nummer live trotz anstrengenden Synchrontanzes auf nicht minder beeindruckende Weise hinbekam wie im erst vorgestern veröffentlichen Musikvideo, lässt vermuten, dass auch sie von der Lockerung der Teilplayback-Regeln durch die EBU profitieren. Bewundernswert außerdem, dass der auch so schon großgewachsene Vaidotas Valiukevičius sich in seinen weißen Siebzigerjahre-Herrenstiefeletten mit den unnötig riesigen Absätzen beim Tanzen nicht die Knöchel brach. Und dass er es schafft, dermaßen abgeschmackte Teile zu tragen, ohne dass man sich vor dem Bildschirm direkt erbrechen möchte. Was zeigt, dass entgegen landläufiger Annahme Kleider eben doch keine Leute machen, sondern Leute Kleider. Jedenfalls schossen The Roop sofort nach Bekanntwerden ihres neuen Songs in den Wettbüros auf Platz 1, und das mit Recht.
Selbe Klamotten, selbe Choreo, nur eine etwas aufwändigere Rahmenhandlung: das Musikvideo.
Ja, die Retromania macht auch vor dem ESC keinen Halt. Raylee’s Lied gefällt mir sehr gut und bleibt nach ein paar mal Hören richtig im Gedächtnis. Im Falle eines Sieges muss sie aber leider auf das Wasser verzichten, denn das ist bei den aufgezeichneten Liveaufritten für Rotterdam nicht gestattet. Als Alternative könnte man ja mal bei der EBU nachfragen, ob man das Ganze mit ner Tonne Desinfektionsmittel machen darf. Momentan gilt man ja als Vorbild, wenn man sich die Hände desinfiziert. Eine ganze Desinfektionsdusche hat noch nie jemanden geschadet!
Leider habe ich mich gestern für die litauische Vorrunde entschieden, wo mir absolut nix hängenblieb. Für das Finale in zwei Wochen haben die Balten EINEN klaren Auftrag: The Roop wählen. Wenn sie das nicht machen, wollen die Litauer den ESC einfach nicht gewinnen. Mit Valdemars Petersons und Martyna könnte ich noch so halbwegs leben, aber selbst zwischen denen und The Roop liegen Welten. “Discothèque” ist zwar etwas schwächer als “On Fire”, aber dennoch ein sehr guter Nachfolger, der beim ESC ganz vorne mitspielen wird. Dennoch bin ich froh, nächste Woche auf Litauen verzichten zu können und mich voll und ganz dem französischen Vorentscheid zu widmen! Vive la France!
Kein Wort zu sexy Gabrielius Vagelis und seiner trendy Kopfbedeckung? Nun ja, leider war allerdings sein Song auch ziemlich vergessenswert… Ansonsten bin ich auch im Team Roop, das diesjährige Werk gefällt mir viel besser als das letztjährige.
*Seufz* Ich mach mich jetzt mal unbeliebt: Ich werde mich wieder auf eine ganz grauenhafte ESC-Saison gefasst machen müssen. Ich finde The Roop und Keiino (oder eher den übertriebenen Hype um sie) und ihre ESC-Lieder so krass nervig. Diese Lieder kann ich allerhöchstens mittelmäßig nennen, und das auch nur, wenn ich bester Laune bin und die rosarote Brille aufsetze. Schlimm finde ich, wie diese Lieder mit Gimmicks ausgestopft werden, um einen übertriebenen Hype zu kreieren. Ich würde ja sagen, man will die Zuschauer für dumm verkaufen, aber die lassen sich das ja sogar andrehen, was mich einfach nur fassungslos macht. An Moniqués Stelle wäre ich heftigst beleidigt, dass man 2020 ihr wundervolles Make Me Human für so etwas abgelehnt hat. In solchen Momenten bin ich unglaublich dankbar, dass es die Jurys beim ESC gibt! Mein Gott, was freu ich mich auf die ESC-Saison 2022, wo die Hypes doch hoffentlich vorbei sind!
@Usain: Bei Litauen habe ich mich auf die Ausgeschiedenen konzentriert, damit der Artikel neben der ganzen The-Roop-Belobhudelung nicht ins Unendliche ausartet. Deswegen habe ich auf eine Würdigung von Gabrielius’ Fake-Burberry-Eierwärmer vorerst verzichtet. Ich bitte um Nachsicht.
Mit Ketil hat die noch junge Saison schon Ihren absoluten Tiefpunkt erreicht.
Finnland zeigt dieses Jahr, wie man in Würde und mit Herz altert.
Norwegen und Litauen wollen wohl tatsächlich keine Konkurrenz zu Ihren ESC-Helden.
Bin gespannt ob Rein noch einen Pfeil im Köcher hat, one last time!
Ketil ist keineswegs schon raus. Es gibt ja in Norwegen noch eine Zweite Chance wo aus den ausgeschiedenen Beiträgen noch ein Song ausgewählt wird. Allerding glaub ich kaum das er da ’ne größere Chance hat. Ist halt auf eine rührende Art sehr altmodisch.
@ Hendi:
Du bist nicht allein. Mir geht es ganz genau so, ich hab mich nur nicht getraut, was zu sagen…
Während Keiino einen müden, ausgelutschten Abklatsch ihrer Erfolgsnummer ins Rennen schicken, machen The Roop das zwar auch, aber in frisch und neu und unterhaltsam. Der Hype des Publikumsvotinglieblings von 2019 ist weitergewandert. Discothéque wird auf jeden Fall der Beitrag sein, den es dieses Jahr zu schlagen gilt. Sämtliche anderen Länder sind mir im Moment egal, meine bangen Blicke wandern nach Island bzw. nach Berlin und hoffen, dass Daði die Nummer noch toppen kann.