Auch wenn es einem angesichts der aktuellen Seuchen- und politischen Weltlage beinahe ein bisschen surreal erscheint, so startete doch gestern die Hochphase der diesjährigen Vorentscheidungssaison mit zwei gleichzeitig laufenden Vorrunden in Norwegen und Litauen. In beiden Shows mussten die auftretenden Acts im zuschauer*innenfreien Sendestudio performen, in beiden Ländern übertünchten die Sender die peinliche Stille nach den Auftritten mit tosendem Dosenapplaus, was die Sache zwar nicht weniger steril und unnatürlich machte, aber immerhin etwas weniger fremdschämwürdig als beim deutschen Eurovisions-Finale 2020 aus dem Hamburger Delphi. Eine weitere Gemeinsamkeit verband die Auftaktrunden der zwei Meeresanrainerstaaten: in beiden flogen so erwartbar wie traurigerweise jeweils die besten Beiträge heraus. Beim norwegischen Melodi Grand Prix traf es die Hardrockkapelle Jorn, das aktuelle Bandprojekt des optisch ein wenig an den Grinch erinnernden, 52jährigen Leadsängers Jørn Lande, der in der Vergangenheit auch schon mit ehemaligen Eurovisions(vorentscheidungs)acts wie der schwedischen Glamrockband The Ark oder den deutschen Bombastrockern Avantasia zusammengearbeitet hat.
Heuer ist mehr Lametta: Jørn Lande führte den Baumschmuck vom vergangenen Weihnachtsfest ressourcenschonend einer neuen Verwendung als Bühnenkostüm zu. Vorbildlich!
Bombastisch klang auch Jorns melodischer und sogar mit einer amtlichen Rückung aufwartender Metal-Schlager ‘Faith bloody Faith’, den das etwas verkniffen wirkende Hutzelmännchen im Kreise seiner Bandkollegen zum Vortrage brachte; dreier deutlich jüngerer, kernig-viriler Wikinger mit teils sehr beeindruckenden Bärten und in martialischem Krieger-Outfit, die allesamt so aussahen, als könnten sie vor wenigen Tagen noch beim gewalttägigen Sturm des Mobs auf das US-amerikanische Kapitol beteiligt gewesen sein. Und tatsächlich wirkte der gesamte Auftritt mitsamt klassischen Flammenwänden und Feuerwerk in seiner altmodischen Inszenierung von toxischer Männlichkeit ein wenig rechtslastig. Was nichts daran ändert, dass Jørn Lande über eine fantastische Stimme verfügt, die Nummer bei aller Schlagerhaftigkeit rockt und unmittelbar ins Ohr geht. Dennoch verloren die nordischen Mannen ihr Duell gegen die späteren Sieger dieser wie schon im Vorjahr im K.O.-Verfahren aufgebauten Vorrunde, das Blechbläsertrio Blåsemafian (großartiger Name!) und ihr funkiges ‘Let loose’. Schade! Doch tatsächlich lag die Aufmerksamkeit der Fans gestern Abend nicht so sehr auf den vier sonst nicht weiter erwähnenswerten Duellant:innen, sondern auf dem bereits fest fürs MGP-Finale gesetzten Trio Keiino, das seinen Song außerhalb der Wertung vorstellen durfte.
Thunder and Gloria: Alexandra Rotan, Fred Buljo und Tom Hugo setzten (sich) ein musikalisches Monument.
Die absolut berechtigten Publikumssieger beim Eurovision Song Contest 2019 waren dort ja bekanntlich an den verachtenswerten, vertrockneten Juror:innen gescheitert, die ihren damaligen Song ‘Spirit in the Sky’ für seinen fast schon unverschämt hohen Spaßfaktor böse abstraften. Und so komponierten die Drei ihren diesjährigen Beitrag ‘Monument’ hörbar ganz auf die Ansprüche der gestrengen Jury hin: mit hochdramatischen Streicherwällen, langen hohen Tönen, nur noch sparsam eingesetzten Joik-Elementen und vor allem mit ganz viel knochentrockener Ernsthaftigkeit. Bei den Fans sorgte das bereits vor wenigen Tagen veröffentlichte Lyrik-Video von ‘Monument’ dennoch für kollektive Zustände orgiastischer Verzückung. Und zwar nicht zu Unrecht, denn natürlich ist der Song herausragend und liefert mit dem Schlachtruf “Thunder and Gloria” das offizielle Motto für das Katastrophenjahr 2021. Und natürlich liebe auch ich ihn von der ersten bis zur letzten Sekunde. Und dennoch fehlt mir gerade in diesen düsteren Zeiten nichts so sehr wie der augenzwinkernd-unbelastete Schlagerfluff von ‘Spirit in the Sky’. Dass nun selbst Keiino sich der Freudlosigkeits-Diktatur der grauen Herren und Damen von der Jury beugen mussten, erfüllt mich um so mehr mit Trauer und Schmerz.
Kate Miller-Heidke hat angerufen und will ihre Strahlenkrone zurück: die Black Spikes.
Und damit von einem vergangenen zu einem aktuellen Jury-Verbrechen: in der ersten von diesmal nur zwei Vorrunden des litauischen Vorentscheidungsverfahrens Pabandom iš naujo (oder, wie ein australischer Fan es gestern auf Twitter entzifferte: Panda Dom is now, yo!) killten die dortigen Juror:innen einen weiteren Rocksong, das feministische ‘Don’t tell me’ der Damenkapelle Black Spikes. Darin sagen die beiden mit je einer schwarzen, stacheligen Dornenkrone bewaffneten Leadsängerinnen dem Patriarchat dem Kampf an und postulieren ihre Unbeugsamkeit. Unterstrichen wurde das Ganze von drei bedrohlich vollverschleierten, auf Ölfässern stehenden Musikerinnen, von denen eine mit einem tief geröhrten Growl den Überraschungsmoment der musikalisch eher mäßigen drei Minuten ablieferte. So erwartbar wie entmutigend daher, dass die Konservativen in Form der Jury – darunter der in ein futtiges Glitzerjäckchen gewandete Vaidas Baumila (ESC 2015) und, aus unerfindlichem Grund, der kroatische Eurovisionsvertreter von 2005, Boris Novković – unmittelbar zurückschlugen und die aufmüpfigen Frauen, von den heimischen Zuschauer:innen immerhin auf Rang 3 gesetzt, so massiv abstraften, dass es für den Einzug ins Pin-Halbfinale dennoch nicht reichte. Wir bewegen uns wirklich mit großen Schritten gesellschaftlich rückwärts!
Das gibt es nur auf dem Baltikum: ein nerdiger Sänger mit Kochtopf-Vokuhila und Fistelstimme.
Einig zeigten sich Jury und Zuschauer:innen hingegen beim letzten Platz für den ehemaligen X‑Factor-Teilnehmer Thomas Tumosa alias Thomukas1 und seinem ‘Wish’, einer Betrachtung über die Folgen unseres stressvollen Lebens auf die mentale Gesundheit. Was weniger am poetisch-tiefgründigen Text gelegen haben dürfte, an seinem extrem nerdigen Outfit oder seinen ulkigen Verrenkungen auf der Bühne. Sondern vielmehr an seinem enervierenden Gefiepe und der musikalischen Nichtigkeit seines ziellos vor sich hin mäandernden Liedleins. Was nicht heißen soll, dass es nicht genau solche Beiträge sind, die das Verfolgen der baltischen Vorentscheidungsrunden so lohnenswert machen. Ebenso wie der erzürnenswert ebenfalls sang- und klanglos ausgeschiedene Spaßbeitrag ‘I love my Bear’ des Blödel-Trios Twosome, das nun seit mehreren Jahren bei Pabandom iš naujo auf geradezu stoische Weise grandios-stumpfe Comedy-Knaller abliefert, die jedes Mal für Aufsehen bei den internationalen Fans sorgen und jedes Mal knallhart bereits in der Vorrunde rausfliegen. So auch diesmal: mit dem mehrdeutigen ‘I love my Bear’ präsentierten sie nicht, wie man denken könnte, eine Ode an die gerade in der Grand-Prix-Fan-Gemeinde überdurchschnittlich häufig vertretene Gruppe von stark behaarten, wohlgenährten schwulen Männern, sondern an die eher bei Heteros beliebte Gerstenkaltschale, das Bier.
Die litauische Panzerknackerbande: Twosome lieben ihren Bären. Äh, ihr Bier.
So erklärte es jedenfalls der als Waschbär (oder Einbrecher?) geschminkte Zigmantas Baranauskas, merkwürdigerweise auf italienisch: “Vorremmo raccontarvi un piccolo Segreto / Questa è una Canzone che non parla di una Persona” (“Lass mich dir ein kleines Geheimnis verraten / Dies ist ein Lied, das nicht von einer Person handelt”) rappt er. Aha! Da war, trotz des fabelhaften Schlussgags mit der Jury-Note vom Band der “Lithuanian Basketball Player” aus dem gleichen Hause doch deutlich witziger. Dennoch bleiben die gestern irgendwie müde wirkenden Twosome, die zur Unterhaltung der Massen noch zwei als Teddybär und rosa Einhorn verkleidete Tänzer aufboten, gewissermaßen die Modern Talking des litauischen Vorentscheids: unverwüstlich, musikalisch stets mit dem selben, nur ganz leicht abgewandelten Lied, immer eigentlich arg peinlich und trotzdem jedes Mal das absolute Guilty Pleasure des Jahrgangs. Hoffentlich sind sie 2022 wieder am Start!
Ohne Zweifel, KEiiNO hat da wieder einen starken Song beim MGP. Hoffe aber, dass die weiteren Vorrunden in Norwegen noch etwas Material nachlegen, damit das MGP-Finale nicht zu ner langweiligen, offensichtlichen Veranstaltung verkommt.
Habe mich gestern für die erste Runde von, ich zitiere Ihren Twitter-Kommentar, “Panda Bomb Is Now!”, entschieden. Und ja, in Sachen herzhaften Trash war da einiges geboten, bin aber mit den Halbfinalisten im Großen und Ganzen zufrieden. Werde mich auch nächste Woche wahrscheinlich wieder für Pin entscheiden. Den sympathischen Balten die Treue halten!
Also wenn Keiino sich schon die Spiegelwände von DoReDos aus deren VE ausleihen, sollten sie auch deren schmucke Tänzer dahinter hervorhüpfen lassen!
Bin mal gespannt, ob das wirklich so durchsegelt wie viele meinen.
“Metal-Schlager” ist ja ein geiler Begriff, da muss ich doch glatt meine Jugendsünden von Megadeath bis Whitesnake und co durchforsten und eine schöne Playlist mit dem Titel in Spotify speichern!
Ich hoffe Bruce Dickinson lyncht mich nicht wenn er darin auftaucht!
Jorn war natürlich 10 mal geiler als die etwas lahme brass-Nummer, das Ergebnis dieses Duells hat mich auch etwas perplex zurückgelassen. Wie Blech geil klingt, hat man letztes Jahr bei Marko in Serbien gehört.
Und mein litauischer Namensvetter ist ein kleines guilty pleasure, hat was von smalltown boy.
Ok, nur ein kleines bisschen 😉