Es ging diesmal unfallfrei vonstatten in der Saku Suurhall zu Tallin: anders als noch im Semifinale der estnischen Eurovisionsvorentscheidung Eesti Laul 2022, wo die Rückkehrerin Elina Netšajeva während ihres Auftritts (Gott sei Dank verletzungsfrei) abstürzte, hielt im Finale die Stahlseilkonstruktion, an welcher die Popera-Diva sich für die hohen Jurynoten ihres Beitrags ‘Remedy’ in luftige Höhen hieven ließ. Fallen sollte die Sängerin am gestrigen Samstagspätnachmittag dennoch tief: ihr eher zäher Song landete im Jury-Ranking ganz hinten und stieß auch beim Publikum auf wenig Gegenliebe. Das traf im Übrigen sämtliche ehemaligen estnischen Eurovisionsvertreter:innen: im Gesamtranking noch hinter Elina schloss der im Vorfeld streckenweise als Favorit gehandelte Stig Rästa ab, der sich mit seinem arg mauen Stangenwarenschlager ‘Interstellar’ allerdings auch nicht die geringste Mühe gab und selbst davon gelangweilt wirkte. Der ursprünglich als visueller Gag gedachte optische Trick des Zurücklehnens an ein nicht sichtbares Sitzmöbel verstärkte da nur den Gesamteindruck der kompletten Lustlosigkeit, anstatt den erhofften Wow-Effekt zu erzeugen.
Gegen das Grand-Prix-Naturgesetz der immer schwächer werdenden Rückkehr fand auch Frau Netšajeva keine Medizin (plus Playlist mit allen zehn Beiträgen in Startreihenfolge).
Auch der einstige ‘Koola’-Crooner Ott Lepland blieb mit der blassen Ballade ‘Aovalguses’ weit hinter seinen Möglichkeiten zurück. Gerade während der in schwarzweiß ausgestrahlten Sequenzen seines Auftritts fehlte ihm dank strengem Seitenscheitel-Fassonschnitt eigentlich nur eine Armbinde, um als SA-Mitglied in einem Sechzigerjahre-Historiendrama durchzugehen. Nur knapp scheiterte hingegen der Einzug ins Superfinale für die Schwedin Anna Sahlene. Sie hatte sich für ihren generischen Mello-Schlager ‘Champion’ Unterstützung von den beiden tollen estnischen Schlagertanten Dagmar Oja und Kaire Vilgats geholt, deren Begleitung die fade Nummer beinahe erträglich machte. Wobei letztlich das gesamte Feld ziemlich blass wirkte, schließlich waren in den insgesamt sechs Ende November 2021 gestarteten Vorrunden und Semis die weniger als eine Handvoll auch nur lässlich originellen Beiträge der diesjährigen Eesti Laul samt und sonders herausgeflogen. Bereits der als Stargast den Abend eröffnende Vorjahresvertreter Uku Suviste, das menschgewordene Male Privilege, wies mit einem noch weiter verlangsamten Medley seiner beiden Siegertitel den vom estnischen Fernsehen mit eiserner Konsequenz verfolgten Weg der bleiernen Langeweile.
Was man bekommt, wenn man Eleni Foureira auf Wish bestellt: Elysa.
Ins Superfinale gelangten gleich zwei Acts, die ihren Semis covid-bedingt noch fernbleiben mussten, gestern Abend jedoch nach erfolgreichem Freitesten live antreten durften. Dabei merkte man der 24jährigen Elisa Kolk alias Elysa die Folgen der Erkrankung stellenweise noch ein bisschen an. Wobei ihr schaler ‘Fuego’-Aufguss ‘Fire’ trotz massiven Flammeneinsatzes die Bühne nicht in Brand zu setzen vermochte. Man muss aber auch sagen, dass selbst das norwegische ‘Ven a bailar conmigo’ von 2007 deutlich authentischer wirkte als dieser fehlgegangene Versuch, lateinamerikanische Pop-Leidenschaft zu simulieren. Sehr viel natürlicher floss hingegen der extrem entspannte Easy-Listening-Titel ‘What to make of this’ der ihrem Namen alle Ehre machenden Formation Minimal Wind über die Bühne. Dass deren Frontfrau Elisabeth Tiffany fast durchgängig mit den Händen in der Jackentasche durch das Halbdunkel spazierte, passte zu der organischen Zurückgenommenheit der Musik. Dass sie dabei jedoch nicht vergaß, von Zeit zu Zeit halbironisch mit der Kamera zu flirten, trug entscheidend mit zum Appeal der letztlich zweitplatzierten Nummer bei.
Wusch angenehm sanft über einen hinweg wie eine ganz leichte Sommerbrise: Minimal Wind.
Mit mehr als 60% der Anrufe machte dann im Superfinale der im ersten Durchgang von den elf internationalen Juror:innen – darunter Mr. Lordi und Natalie Horler von Cascada – noch auf Rang 2 gesetzte Stefan Airapetjan bei seinem mittlerweile vierten Eesti-Laul-Anlauf endlich die Krone klar. Und das erstaunlicherweise mit einem Countrysong, also einem musikalischen Genre, das einem nicht unbedingt als erstes einfiele, wenn man an das Baltikum denkt. Mit einem Wüstenpanorama als Backdrop und zwei finster dreinblickenden Cowboys, die sich zunächst ein Anstarr-Duell lieferten und dann gar die Spielzeugpistolen zogen, erschuf der Este mit armenischen Wurzeln ein beinahe hypnotisches High-Noon-Szenario, welches sehr erfolgreich von dem textlich etwas spärlich möblierten Refrain (“I hope, I hope, I hope… I hope, I hope”) abzulenken vermochte. Den Gesetzmäßigkeiten der Hollywood-Logik folgend, muss es sich bei den beiden Finsterlingen um die Schlechten gehandelt haben, denn Zielen und Treffen konnten sie beide nicht. Das vermögen im Film ja bekanntlich immer nur die Guten. So wie unser Stefan, der unbeeindruckt von dem Geballer einfach weitersang und die Zwei damit in die Flucht schlug. Wohlgetan!
Toll an ‘Hope’: Stefans basslastige Stimme in den Strophen und der treibende Discobeat im Refrain. Noch optimierungsbedürftig: die Aussprache.
Vorentscheid EE 2022
Eesti Laul. Samstag, 12. Februar 2022, aus der Saku Suurhall in Tallin. 10 Teilnehmer:innen. Moderation: Maarja-Liis Ilus und Priit Loog. Televoting (50%) und elfköpfige internationale Jury (50%) mit Superfinale (100% Televoting).# | Interpreten | Songtitel | Televote | Jury | Superfinale | Platz |
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01 | Elina Netšajeva | Remedy | 04 | 043 | – | 08 |
02 | Andrei Zevakin + Greta Paia | Mis nüüd saab | 05 | 055 | – | 06 |
03 | Jaagup Tuisk | Kui vaid | 01 | 048 | – | 10 |
04 | Elysa | Fire | n.b. | 066 | 06% | 03 |
05 | Ott Lepland | Aovalguses | 03 | 062 | – | 07 |
06 | Stig Rästa | Interstellar | 02 | 053 | – | 09 |
07 | Minimal Wind + Elisabeth Tiffany | What to make of this | n.b. | 101 | 31% | 02 |
08 | Stefan Airapetjan | Hope | n.b. | 085 | 62% | 01 |
09 | Anna Sahlene | Champion | 06 | 069 | – | 04 |
10 | Black Velvet | Sandra | 07 | 056 | – | 05 |
Und? Schießt Stefan in Turin den Weg frei für einen Einzug Estlands ins Finale?
- Pow pow: aber klar. Die Nummer ist gut, er sexy und die Inszenierung top. (63%, 39 Votes)
- Humpf. Country kann beim Contest ja funktionieren, aber dazu ist der Song doch ein bissl zu schwachbrüstig. (34%, 21 Votes)
- Amerikanische Volksmusik? In einem europäischen Wettbewerb? Nope, there’s neither Hope nor Glory. (3%, 2 Votes)
Total Voters: 62

Eesti Laul 2023 >
Gut gemacht, Estland! Meine neue Nummer 1.
Einzige Mankos: Ich finde ja nach wie vor, dass sich das Lied zu sehr nach “Heroes” von Måns Zelmerlöw anhört und das Lied bei mir ein bisschen brauchte, um von mir so wertgeschätzt zu werden. Und eventuell, wie schon angemerkt, die Aussprache. Aber ansonsten ist das ne runde Nummer! Wobei das nur ein Teil meiner gestrigen Freude war. Alle vier bestimmenden Länder haben die in meinen Augen und Ohren richtigen Acts ausgewählt. Bravo, gibt es nicht immer!
Tja, Du hast recht, Otti’s Hairstyle hatte wirklich was von Opi‘s Frisur anno 1933. Dazu auch noch in schwarz-weiß Optik. Bisschen beängstigend… Schade, denn seine Stimme empfinde ich als reinsten Seelenbalsam.
Hope hatte ich schon vor dem Finale wenig für Estland.
Aber der Sieger scheint gar nicht so schlecht anzukommen.
Meins ist es nicht, aber ich war auch schon nie ein besonders großer Avicii-Fan.
“Heroes” kann ich zwar auch heraushören, sehr viel stärker ist aber die Affinität zu den Weltklassekompositionen von Ennio Morricone. Hat durch die hervorragende Performance noch mehr gewonnen und der estnische Django ist zweifellos ein Hingucker. Auch das verwaschene Englisch paßt hier sehr gut. Estland traut sich was und wird mit 8 von 12 Punkten von meiner Seite belohnt. Sehe ich derzeit klar im Finale.
Minimal Wind hätte mir allerdings noch besser gefallen, zum Glück hatte dieser “Fire”-Schrott im Superfinale keine Chance.
Ich kann es mittlerweile bei fast jedem Land bemerken (außer Irland): Hallo NDR, SO macht man das Q