
“Was ist schon ein Jahr?”, so lautet die originalgetreue Übersetzung eines späteren Siegertitels beim Eurovision Song Contest. Nun: manchmal augenscheinlich ein ganzes Leben, wenn es zwischen zwei deutschen Grand-Prix-Vorentscheidungen liegt. Rein formal unterschied sich das diesjährige nationale Finale aus Frankfurt am Main kaum vom dem ebenfalls durch den Hessischen Rundfunk mit veranstalteten aus Berlin anno 1972: wie schon dort gab es wiederum zwölf Beiträge und zehn Juror:innen (davon fünf “musikinteressierte Laien”), die jeden Song mit mindestens einem bis maximal fünf Punkten zu bewerten hatten. Selbst das deutsche Spitzenschlagerpärchen Cindy & Bert sowie deren sozialdemokratisch-liedermacherhafte Strickpullundervariante Inga & Wolf waren, wie bereits im Vorjahr, erneut am Start. Und dennoch konnte man sich des Eindruckes nicht erwehren, es gehe beim deutschen Vorentscheid – ganz ähnlich wie in der hiesigen Politik – im stetigen Wechsel immer einen Schritt vorwärts und dann wieder zwei zurück.
Man fasst es nicht: seit ‘Mendocino’ (1969) landete der große Michael Holm Hit auf Hit, und dann macht er bei so einem Mist mit? (Plus Playlist zum Durchskippen mit sieben der 12 Beiträge in Startreihenfolge).
Denn was das inhaltliche Niveau angeht, so lagen Welten zwischen den beiden Veranstaltungen. Wüsste man es nicht besser, glaubte man, bei einer der sterbenspeinlichen End-Achtzigerjahre-Vorentscheidungen gelandet zu sein, als so bodenlos schlecht erwies sich die musikalische Qualität der hier verklappten Schlichtschlager. Und als dermaßen lieblos und uninspiriert die gesamte Show, als deren einsamer – wenn man das überhaupt so nennen möchte – Höhepunkt das zwischendrin zur Überbrückung der Stimmenauszählung tänzerisch auftretende Ehepaar Trautz fungierte: das vom Unterhaltungschef des hr, Hans-Otto Grünefeldt, in einem fulminanten Rollback der Spießigkeit wieder aus der Versenkung geholte Pausenfüller-Pärchen bot mit seiner preußisch-zackig exekutierten und damit um so drolligeren Tanzstundenakrobatik wenigstens ein kleines bisschen an (wenn auch unfreiwilliger) Komik. Die restlichen 80 Minuten der Sendung, die von zeitgemäßer Unterhaltung nicht weiter hätte entfernt sein können und in Sachen Fremdscham selbst das 1969er Kleintierzüchtervereinstreffen spielend in den Schatten stellte: Schlaftablette pur!
Ein kaputter Bauzaun als Studiodeko, eine lieblose Moderation: der Hessische Rundfunk scheute 1973 sowohl Kosten als auch Mühen.
Peinlicherweise gelang es dem Hessischen Rundfunk nicht, genügend Sänger:innen für die vorgesehenen zwölf Beiträge zusammenzukratzen. Und so musste ein:e jede:r Derjenigen, die sich “freundlicherweise zur Verfügung gestellt” hatten, wie man nicht müde wurde, zu betonen, gleich zwei Mal ran. Was angesichts der furchtbaren Songs als reiner Sadismus gegenüber den Zuschauer:innen gewertet werden muss. Kein Mitleid hingegen mit den kollaborierenden Interpret:innen, zu denen auch die beiden Schlagerstars Roberto Blanco und Michael Holm zählten: die hätten sich ja weigern können! Leider erwiesen sich nicht nur die Lieder als sterbenslangweilig, auch über die Auftritte des singenden Personals gibt es absolut nichts Interessantes oder auch nur Lästerliches zu berichten. Mal abgesehen vielleicht von der Belgierin Tonia (1966, ‘Un peu du Poivre, un peu du Sel’), die wenigstens mit ulkigen Grimassen von der Drögheit ihrer beiden Beiträge abzulenken suchte, wobei ihr ihr Doris-Schröder-Köpf-gleiches Gebiss sehr zupass kam. Mit ‘Sebastian’, einem Liebeslied für einen bellenden Vierbeiner (frönt man nicht eher in den Niederlanden der Sodomie?), belegte sie denn auch den zweiten Platz. Verdient, denn auf den Hund gekommen war diese Show nun wirklich.
Eine hundevernarrte Belgierin im Skianzug: To-ni‑a.
Bezeichnend, dass einer der “Laien”-Juroren, von Beruf Schallplattenverkäufer und somit vermutlich ein klein wenig Ahnung von aktuell gefragter Popmusik habend, die zwölf Titel fast durchgehend mit der Mindestpunktzahl bedachte. Was die Unterhaltungschefs befreundeter TV-Stationen (sogar aus Spanien war jemand da) als Dank für die schöne Dienstreise mit Maximalwertungen ausglichen. Ganz offensichtlich litt unter den Ausgaben für eben diese Dienstreisen jedoch das Budget der restlichen Show dermaßen stark, dass weder für eine ansprechende Studiodekoration noch für ein Pausenprogramm, das seinen Namen verdient hätte, Geld zur Verfügung stand. Stattdessen quälte ein verstaubter Magier die Zuschauer:innen, konnte aber auch keinen Glanz in die Vorentscheidung zaubern. Die “Profi”-Juroren sorgten dann auch für den knappen Sieg von Gitte Hænning. Was vermutlich vorher abgesprochen war, wenn auch nur aus dem einen Grund, dass die Gastgeberin, “Fräulein” Edith Grobleben, in ihrer vom Blatt abgelesenen Moderation wenigstens eine “spontane” Pointe unterbringen konnte: das bei der Ansage des Siegerinnentitels schelmisch vorgetragene “Bitte, Gitte!”.
Du musst mit den Wimpern klimpern: Gitte!
Das richtet sich keinesfalls gegen die von mir hochverehrte Frau Hænning: ihr ‘Junger Tag’, ein hymnischer Anspruchshaltungsschlager, der inhaltlich (“Junger Tag, ich frage Dich: was ist Dein Geschenk an mich?”) den Boden für ihre spätere Maximalforderung “Ich will alles, und zwar sofort!” bereitete, war tatsächlich das einzige (!) erträgliche Elaborat an diesem Abend. Auch wenn die grundsympathische Dänin diese wunderbare, dezent swingende Ballade in ihren gelben Gummistiefeln etwas unterenthusiastisch vortrug. Aber weswegen hätte ausgerechnet sie sich besondere Mühe geben sollen, wenn es sonst schon keiner tat? So bleibt diese heimische Vorentscheidung leider als lustlose, fade Zeitverschwendung in Erinnerung, bis auf die Trautzens noch nicht mal unfreiwillig komisch: eine ganz und gar konservative und geistlose, ja richtiggehend dilettantische Veranstaltung, gegen die selbst Dieter Thomas Hecks ZDF-Hitparade wie ein Hort der Rebellion und Fortschrittlichkeit wirkte. A propos Hitparade: Platz 19 in den deutschen Single-Charts war das Geschenk der Deutschen an Gitte.
Zeitgleich mit ihrer Vorentscheidungsteilnahme landete das saarländische Schlagerpärchen mit ‘Immer wieder Sonntags’ seinen größten Hit in den Verkaufscharts. Ihre beiden “Lieder für Luxemburg” erschienen hingegen noch nicht einmal als Single (Repertoirebeispiel).
Deutsche Vorentscheidung 1973
Ein Lied für Luxemburg. Mittwoch, 21. Februar 1973, aus dem Studio 2 des Hessischen Rundfunks in Frankfurt am Main. Sechs Teilnehmer:innen. Moderation: Edith Grobleben. Zehnköpfige Jury.# | Interpret:innen | Songtitel | Jury | Platz | Charts |
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01 | Michael Holm | Das Beste an Dir | 25 | 09 | - |
02 | Tonia Mertens | Mir gefällt diese Welt | 30 | 07 | - |
03 | Inga & Wolf | Manchmal | 32 | 06 | - |
04 | Roberto Blanco | Ich bin ein glücklicher Mann | 34 | 04 | - |
05 | Gitte Hænning | Junger Tag | 40 | 01 | 19 |
06 | Cindy & Bert | Wohin soll ich gehn? | 26 | 08 | - |
07 | Michael Holm | Glaub daran | 19 | 12 | - |
08 | Tonia Mertens | Sebastian | 39 | 02 | - |
09 | Inga & Wolf | Schreib ein Lied | 36 | 03 | - |
10 | Roberto Blanco | Au revoir, auf Wiedersehn | 24 | 11 | - |
11 | Gitte Hænning | Hallo, wie geht es Robert? | 33 | 05 | 19 |
12 | Cindy & Bert | Zwei Menschen und ein Weg | 25 | 09 | - |
Letzte Aktualisierung: 25.09.2022