Unser Lied für Rot­ter­dam 2020: Schö­nes Durcheinander

Ein 22jähriges, deut­lich jün­ger wir­ken­des Cas­ting­show­büb­chen ver­tritt Deutsch­land beim Euro­vi­si­on Song Con­test 2020 in Rot­ter­dam. So ver­kün­de­te es der zustän­di­ge NDR heu­te Nach­mit­tag im Rah­men der Auf­zeich­nung der von Bar­ba­ra Schö­ne­ber­ger mode­rier­ten Songvor­stel­lung Unser Lied für Rot­ter­dam, die dann spä­ter am Abend auf dem Spar­ten­sen­der One zur Aus­strah­lung gelang­te (was ist das eigent­lich für ein absur­des Kon­zept?). Benjamin Dolic heißt der mir bis zum heu­ti­gen Tag völ­lig unbe­kann­te Kna­be mit der mäd­chen­haft hohen Stim­me. Dabei kann er eine alters­ty­pi­sche Cas­ting­show-Kar­rie­re vor­wei­sen: gebo­ren in Ljublja­na, nahm er bereits im zar­ten Alter von 12 an Slovenia’s got Talent teil. 2016 zeich­ne­te er als Lead­sän­ger des Band­pro­jek­tes D Base bei der Euro­vi­si­ons­vor­ent­schei­dung EMA für die weni­gen erträg­li­chen Pas­sa­gen im dort vor­ge­stell­ten – und geschei­ter­ten – Rap-Song ‘Spet živ’ ver­ant­wort­lich. Zwei Jah­re spä­ter sie­del­te er in die Schweiz über, bewarb sich aber gleich­zei­tig bei The Voice of Ger­ma­ny, wo er die Sil­ber­me­dail­le hol­te. Mitt­ler­wei­le lebt er in Ber­lin. Sein Euro­vi­si­ons­bei­trag heißt ‘Vio­lent Thing’ und stammt aus der Feder des aus­ge­spro­chen erfolg­rei­chen Sym­pho­nix-Kom­po­nis­ten Boris Mila­nov, der unter ande­rem an Kris­ti­an Kos­tovs ‘Beau­tiful Mess’ betei­ligt war, wel­cher 2017 damit für Bul­ga­ri­en den zwei­ten Platz errang.

Ein gebür­ti­ger Slo­we­ne mit einem Song eines bul­ga­risch-öster­rei­chi­schen Pro­du­zen­ten­teams: Deutsch­land prä­sen­tiert sich beim ESC 2020 gleich­zei­tig gewalt­be­reit wie welt­of­fen. Ganz wie im rich­ti­gen Leben.

Und wie bereits eben jener in Fan-Krei­sen stark abge­fei­er­ter Kos­tov-Titel, mit dem der hie­si­ge Blog­ger jedoch nicht das Gerings­te anfan­gen konn­te und kann, erweist sich auch Dolics wie aus den aktu­el­len Pop-Charts ent­führt klin­gen­de Num­mer als ein­deu­tig für eine jün­ge­re Gene­ra­ti­on geschrie­ben. Dabei ist an ihr nichts aus­zu­set­zen: als aller­ers­tes möch­te man natür­lich vor Glück wei­nen und die Häup­ter aller Betei­lig­ten in bei­den Aus­wahl­ju­rys mit Lor­beer umkrän­zen und mit Öl sal­ben, dass sie einen Upt­em­po-Song aus­wähl­ten. Ja, Sie lesen rich­tig: Upt­em­po! Kei­ne den Lebens­wil­len töten­de Depri-Bal­la­de ser­viert uns der NDR, ganz im Gegen­teil: im Text beschreibt der doch so jun­gen­haft-unschul­dig wir­ken­de Ben, wie er sich in ein Mädel ver­liebt, das beim Sex auf die här­te­re Gang­art steht. Und auch hier darf – ähn­lich wie beim ukrai­ni­schen Bei­trag – die Mut­ter nichts davon wis­sen. Ist es in die­sem Fall nicht ein biss­chen unklug, die Pas­si­on für SM vor der gan­zen Welt hin­aus­zu­po­sau­nen? Wie dem auch sei: gewöhnt man sich erst mal an die tim­ber­lakes­ke Stim­me und den krum­men Koch­topf­schnitt des Inter­pre­ten, zün­det der Song beim drit­ten Hören tat­säch­lich. Beim ers­ten, alles ent­schei­den­den Mal jedoch ent­lock­te er mir nicht mehr ein rat­lo­ses Schul­ter­zu­cken. Aber so ging es mir mit ‘Beau­tiful Mess’ auch, das hat also nichts zu sagen. Soll­te der NDR nun zur Abwechs­lung mal in eine ange­mes­se­ne Live-Prä­sen­ta­ti­on (unbe­dingt! mit! Tänzer:innen!) inves­tie­ren, könn­te die Num­mer in Rot­ter­dam steil gehen.

Dolic bei der EMA 2016, mit sei­ner Band D Base.

[Nach­trag 22:30 Uhr:] Im Nach­hin­ein muss man dem NDR dank­bar sein, dass er Unser Lied für Rot­ter­dam, wohl­ge­merkt die offi­zi­el­le Show zur Prä­sen­ta­ti­on des deut­schen Euro­vi­si­ons­bei­trags 2020, auf dem Spar­ten­sen­der One ver­steck­te. Jedes ein­zel­ne öffent­li­che Vor­sin­gen für den weiß­rus­si­schen oder mol­da­wi­schen Vor­ent­scheid (und nur, wer eine sol­che Show selbst schon mal sah, kann nach­emp­fin­den, was ich mei­ne) über­trumpf­te die­se mit aller­lei über­flüs­si­gen Albern­hei­ten wie der Knall­char­ge Sky DuMont als das Aus­wahl­sys­tem erklä­ren­der “Pro­fes­sor Satel­li­te” künst­lich in die Län­ge gezo­ge­ne Pres­se­kon­fe­renz in Sachen Pro­fes­sio­na­li­tät und Gla­mour! Selbst die sonst so ver­läss­li­che Bar­ba­ra Schö­ne­ber­ger, die sich als klei­ne Reve­renz an die slo­we­ni­sche Her­kunft unse­res Ver­tre­ters als Nuša Deren­da ver­klei­de­te, trug mit ihrem teils ins gou­ver­nan­ten­haf­te abdrif­ten­den Geplap­per (“Trag nur kein wei­ßes Kleid!”) mit dazu bei, dass man sich als Zuschauer:in fremd­schäm­te für den Umgang mit dem Künst­ler, den sie wie einen unar­ti­gen Schul­jun­gen her­um­ste­hen ließ, wäh­rend sie ihn mit Belang­lo­sig­kei­ten zuquas­sel­te oder Fra­gen stell­te, bei denen einem die Ohren abfal­len woll­ten. Und des­sen Nach­na­men noch nicht ein­mal Erwäh­nung fand. Und wer kam auf die hirn­ris­si­ge Idee, zunächst den Video­clip mit der per­fekt pro­du­zier­ten Stu­dio­fas­sung zu zei­gen – und Ben Dolic die Num­mer dann am Ende der Sen­dung in der Akus­tik­ver­si­on sin­gen zu las­sen? Ohne Büh­nen­show und Beleuch­tung drum­rum? Wel­chen Mehr­wert soll­te das bieten?

Okay, live sin­gen kann Ben. Kann er das auch, ohne wie ein ange­schos­se­nes Reh drein­zu­schau­en? Kann er tan­zen? Gibt einen memo­rablen Hin­ter­grund? Zeigt uns bit­te, wie das beim ESC aus­se­hen soll oder lasst es. Aber das hier beschä­digt den Song.

Zuletzt aktua­li­siert: 10.01.2022

< Unser Lied für Isra­el 2019

Unser Lied für Rot­ter­dam 2021 >

14 Comments

  • Das ist für mei­nen Geschmack der bes­te deut­sche Bei­trag seit 2011 mit TBAS. Wenn (und das ist ent­schei­dend) der NDR das Sta­ging ent­spre­chend tem­po­reich gestal­tet (evtl. in Ahn­leh­nung an She Got Me von Luca), dann könn­te das tat­säch­lich ein Top10-Result wer­den. Ich freue mich jetzt schon und füh­le mich gut ver­tre­ten durch die­sen Song, der mich instant abge­holt hat.

  • Die Num­mer an sich ist ja gar nicht mal so schlecht. Aber dem Sän­ger fehlt jeg­li­ches Cha­ris­ma und jeg­li­che Büh­nen­prä­senz. Ich sehe da abso­lut Null Ver­an­la­gung zur der Art von Ram­pen­sau, die die­se Num­mer als Inter­pret ver­dient hät­te, und nicht so einen nichts­sa­gen­den Milchbubi.

    Ich sehe die Num­mer schon so enden wie letz­tes Jahr Bel­gi­en, wo ein Jüng­ling wie ein ängst­li­ches Reh im Schein­wer­fer­licht auf der Büh­ne stand und sich nicht trau­te, sich zu bewegen.

  • dan­ke, oli­ver, für die wohl­tu­en­den wor­te zur “show” heu­te abend – so viel fremd­scham war in der tat sel­ten. aber immer­hin lässt sich der bei­trag gut anhö­ren, geht ins bein (und ich gehö­re ganz gewiss nicht zu einer jün­ge­ren gene­ra­ti­on als du) und ist auch ganz cat­chy – jeden­falls in der video­ver­si­on; das akkus­ti­sche geklamp­fe stell­te ledig­lich klar, dass klein-ben das ding stimm­lich wup­pen kann. da ich tra­di­tio­nell nicht für deutsch­land punk­te, gibt´s hier nur ein (aber wirk­lich sehr enthu­si­as­mier­tes) aner­ken­nungs-bien­chen. mei­ne jahr­gangs­spit­zen blei­ben jedoch (in die­ser rei­hen­fol­ge) litau­en und ita­li­en. viel­leicht kommt ja noch was ande­res nettes…

  • Das deut­sche Fern­seh­pu­bli­kum hät­te die­sen moder­nen und flot­ten Act sicher­lich nicht nach Rot­ter­dam gewählt. So hat der unfreund­li­che Aus­schluss der TV-Voter doch noch was Gutes, denn der freund­li­che Boy kann durch­aus was reissen.
    Der pas­send gewähl­te Titel “Vio­lent Thing” ver­leiht dem Gan­zen viel­leicht auch noch die dafür not­wen­di­ge Stärke.

  • Ich finds toll! UpT­em­po, modern und wenn das sta­ging passt, könn­te es ein sehr gutes Jahr für Deutsch­land werden.
    Ja, die Show war ziem­lich mau und ich den­ke, es war tat­säch­lich nur ‘fan­ser­vice’ dass es über­haupt aus­ge­strahlt wor­den ist…Denn mal ehr­lich, außer Hard­core ESC Fans schaut sich das nie­mand an, wenn der Song schon am Nach­mit­tag offi­zi­ell vor­ge­stellt wor­den ist.

    Ich hab ein gutes Gefühl, dass in den kom­men­den Mona­ten viel Zeit (und Geld) in die Per­for­mance gesteckt wird. Ich hof­fe, er kann bei den diver­sen euro­vi­si­on par­ties in Lon­don, Ams­ter­dam usw auf­tre­ten und so noch siche­rer wer­den und die Fans für sich begeistern.

    Ganz ehr­lich, auf so einer mini Büh­ne auf einem Kino­saal, bei so einer selt­sa­men Ver­an­stal­tung – noch dazu nur vor Jour­na­lis­ten – würd ich auch drein schau­en wie ein ange­schos­se­nes Reh. Sei­ne the voice Auf­trit­te zei­gen ja, dass er schon eine gewis­se Büh­nen­prä­senz hat

  • Also mir hat die Akus­tik­ver­si­on Mehr­wert gebracht. Als ich die Stu­dio­fas­sung hör­te, hat­te ich erst mei­ne Zwei­fel, ob und wie er das live stem­men kann. Die hat er damit aus­ge­räumt. Ich bin sehr opti­mis­tisch für Rotterdam. 🙂

  • Nun gut, geht halt die­ses etwas spoo­kige Man­child nach Bot­ter­dam. Hätt schlim­mer kom­men können.
    Aber die Show in die­sem Mini-Kino – du lie­ber Gott!
    Die Mode­ra­teu­se sah aus wie ein explo­dier­ter Feu­er­sal­man­der, eine Kame­ra, wo eben noch Platz ist, ausgleuch­tet das Gan­ze, nicht ein­mal dilet­tan­tisch, nein nur eben notdürftig. 

    Und Leu­te, ich wer­de nicht müde zu pre­di­gen, zu war­nen und mei­ne Stim­me zu erhe­ben: Peter Urban, genie­ße bit­te dei­nen Ruhe­stand. Es ist genug! Es reicht. Er fin­det alles wun­der­bar, immer. S!sters, Ann-Sophie, und wie sie alle hie­ßen. Der NDR hat das fabel­haft gemacht, wird er nicht müde zu beto­nen. Was ist da los? Was hat der gegen alle beim NDR in der Hand, dass er jahr­zehn­te­lang (!)‘sei­ne imkom­pe­ten­ten Stam­me­lei­en abson­dern darf, eine Rent­ner, wei­ter­hin ali­men­tiet von unse­ren GEZ-Gebüren?
    Die neue Sin­gle von Micha­el Schul­ze (O‑Ton-Schö­ne­ber­ger) – uaaah, wer will das hären? Das h#tte er frü­her nicht mal auf die B‑Seite einer Sin­gle geschafft.

  • Flot­te Num­mer, hört sich gut weg in den 3 Minu­ten, hin­ter­lässt danach aber wenig Spu­ren. Geht mir hier ähn­lich wie mit den hoch­ge­lob­ten rumä­ni­schen Songs.
    Hof­fent­lich wird es ne gei­le Büh­nen­show, die braucht der Song ganz drin­gend damit er steil geht.
    Viel Glück Ben!!

  • Fremd­schä­men? Wegen nich­ti­ger Din­ge? Leu­te, das Leben ist zu kurz dafür!

    Zum Bei­trag:
    Bin ange­nehm über­rascht. Rein per­sön­lich hät­te ich mir ande­res gewünscht, aber vom Wett­be­werbs­ge­dan­ken her, hat das deut­sche Team vie­les rich­tig gemacht. Soll­te das Ding gut auf die Büh­ne gebracht wer­den, wür­de ich sogar sagen, alles wur­de rich­tig gemacht. Aber das sehen wir dann. Die Art Song ist aktu­ell eben recht beliebt, inso­fern wur­de das Rad hier nicht neu erfun­den (was ja auch nicht muss). Der beson­de­re Kick kommt hier durch die Stim­me Bens. Alles in allem Top10-Material.

  • Muss Tho­mas (28. Febru­ar 2020 um 09:47 Uhr) Recht geben. Die Num­mer ist arsch­glatt. Wie alle von Mila­nov für den ESC pro­du­zier­ten Titel. Da fehlt ein Quan­tum See­le. Alles rich­tig gemacht! Super­stre­ber, 1 mit Stern. Aber alles knall­hart durch­kal­ku­liert, durch­spe­ku­liert, Ich wet­te, sogar das Kin­der-Image von Ben­ja­min ist Kalkül.

  • Glatt… gebü­gelt… massentauglich…gut für Dudelfunk…ein Song unter vielen…beim esc viel­eicht wei­ter vor­ne … schnell kon­su­mier­bar so wie nor­ma­ler­wei­se die schwe­di­schen Erzeug­nis­se… danach schnell wie­der vergessen

  • Zunächst ein­mal war die Show am Don­ners­tag mit das pein­lichs­te was ich in den letz­ten Jah­ren auf einem öffent­lich recht­li­chen Sen­der gese­hen habe. Kommt das nächs­te mal die Prä­sen­ta­ti­on aus der Gara­ge vom Schrei­ber? Mit das bes­te war der Akku­s­tik­auf­tritt von Ben Dolic der bewie­sen hat das er sin­gen kann. Der Song kommt inter­na­tio­nal erstaun­lich gut an. Vie­le sind davon sogar über­rascht im posi­ti­ven Sinn. Hof­fent­lich mischt sich der NDR nicht in die Büh­nen­per­for­mance ein und lässt dem Team Mila­nov voll­kom­men freie Hand. Außer­dem an die die kri­ti­sie­ren, das der Song nicht ori­gi­nell ist, der sei dar­an erin­nert, das die Schweiz bzw. die Nie­der­lan­de jetzt auch kei­nen Inno­va­ti­ons­preis gewon­nen hat­ten und die Ergeb­nis­se waren abso­lut top. Ich fin­de sogar das Ben Dolic ein bes­se­rer Sän­ger als Luca Hän­ni ist. Mei­ne Kri­tik am NDR bleibt, die Zuschau­er nicht mit­ein­be­zo­gen zu haben. Und die bleibt auch nach dem ESC, selbst dann wenn Ben Dolic gut abschnei­den wür­de. Ihm per­sön­lich wün­sche ich das best­mög­li­che Ergeb­nis. Dem NDR einen neu­en Unterhaltungsdirektor.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert