Unser Lied für Rot­ter­dam 2021: der ADHS-Song

Nun ist er also drau­ßen, der deut­sche Euro­vi­si­ons­bei­trag 2021. Der von dem 26jährigen Ham­bur­ger Jen­drik Sig­wart selbst kom­po­nier­te Song ‘I don’t feel Hate’, der die bei­den Vor­auswahl­ju­rys in der­ma­ßen hel­le Begeis­te­rung ver­setz­te, dass sie dafür nach Aus­sa­ge der deut­schen Dele­ga­ti­ons­lei­te­rin Alex­an­dra Wolfs­last und des schei­den­den NDR-Unter­hal­tungs­chefs Tho­mas Schrei­ber sogar etli­che eta­blier­te Künstler:innen sowie im Song­wri­tin­g­camp zu Mal­mö ent­stan­de­ne Lie­der zie­hen lie­ßen. Und statt­des­sen den quir­li­gen Musi­cal-Sän­ger “mit der höchs­ten Punk­te­wer­tung, die wir bis­lang bei unse­rem Sys­tem gese­hen haben” zu ihrem Lieb­ling kür­ten. Wie sich das stets so zuträgt, wenn ein Titel bereits exis­tiert, die Prä­sen­ta­ti­on aber aus stra­te­gi­schen Grün­den erst zu einem bestimm­ten Ter­min (näm­lich heu­te) erfol­gen soll, sicker­te ‘I don’t feel Hate’ bereits ges­tern auf brei­ter Basis durch und sorg­te für aller­lei Fan-Reak­tio­nen, die von Ent­set­zen bis Ent­zü­cken reich­ten. Und eines schon mal eta­blier­ten: nach ‘Guil­do hat euch lieb’ schickt Deutsch­land 23 Jah­re spä­ter end­lich mal wie­der einen Mar­mi­te-Song, der extrem pola­ri­siert. Allei­ne dafür gebührt dem NDR und vor allem Jen­drik fet­ter Respekt!

Farb­ex­plo­si­on im Wasch­sa­lon: in ‘I don’t feel Hate’ pas­siert alle 0,2 Sekun­den etwas anderes.

Auch das heu­te nun end­lich ver­öf­fent­lich­te Musik­vi­deo pro­du­zier­te der Künst­ler mit schmals­tem Bud­get selbst, und es gehört eben­so untrenn­bar zum Gesamt­pa­ket wie die Per­sön­lich­keit des Inter­pre­ten, der durch näm­li­chen Kurz­film tobt wie ein unter ADHS lei­den­der Gras­hüp­fer auf Speed und einen kom­plet­ten audio­vi­su­el­len Over­kill auf­tischt. Es pas­sie­ren zu jedem belie­bi­gen Zeit­punkt min­des­tens vier Din­ge gleich­zei­tig, und das gilt für die Hand­lung des Clips eben­so wie für die Musik. Die ver­knüpft Jen­driks per­sön­li­ches Mar­ken­zei­chen, die strass­be­setz­te Uku­le­le, mit fet­ten Blä­sern, kra­chen­den Rock­gi­tar­ren, einem klei­nen Tap­dance-Break, pfad­fin­der­haf­ten Pfeif­ein­la­gen und einem eklek­ti­schen Gesangs­stil zu einer glei­cher­ma­ßen gut­ge­laun­ten wie anstren­gen­den Kako­pho­nie, die man, wenn über­haupt, aus­schließ­lich auf­grund der sym­pa­thi­schen Aus­strah­lung des Künst­lers aus­hält. Ob das beim Euro­vi­si­on Song Con­test funk­tio­niert, wird ein­zig und allei­ne von der Büh­nen­show abhän­gen und davon, ob Jen­drik sei­ne anste­cken­de Fröh­lich­keit auch live in die Fern­seh­ka­me­ras trans­por­tie­ren kann.

Wir waren vor­ge­warnt: schrä­ges Plin­ker­pl­on­ker mach­te Jen­drik schon immer (Reper­toire­bei­spiel).

Als rei­ne Audio­spur fängt das gewis­ser­ma­ßen aus einem Teil ‘Cake to Bake’ und zwei Tei­len ‘Lemon Tree’ bestehen­de ‘I don’t feel Hate’ trotz geschick­ter Struk­tur näm­lich sehr rasch an, zu ner­ven und mas­si­ve Ableh­nung her­vor­zu­ru­fen. Was die gan­ze Num­mer auch noch auf der Meta-Ebe­ne inter­es­sant macht, geht es in dem ziem­lich cle­ve­ren Text näm­lich um die in den Zei­ten der “aso­zia­len Medi­en” (Tho­mas Schrei­ber) über­all prä­sen­te Het­ze und um Cyber-Bul­ly­ing, auf das unser Prot­ago­nist sehr gelas­sen und auf­ge­räumt reagiert und es eben nicht auf sich bezieht, son­dern gegen den namen­lo­sen Aggres­sor wen­det. Eine tol­le Bot­schaft, zeit­ge­mäß und ohne erho­be­nen Zei­ge­fin­ger prä­sen­tiert. Dafür mit einem sou­ve­rän aus­ge­streck­ten Mit­tel­fin­ger, was den deut­schen ESC-Bei­trag 2021 auf sei­ne Wei­se mit dem fin­ni­schen ver­bin­det, auch wenn musi­ka­lisch natür­lich Wel­ten dazwi­schen lie­gen. Klar ist, dass wir damit in Rot­ter­dam weder sie­gen noch Letz­ter wer­den, son­dern eher ein Pol­la­pönk-Ergeb­nis (Rang 15) ein­fah­ren dürf­ten. Aber das ist mir ehr­lich gesagt auch scheiß­egal. Ich bin schon glück­lich, dass wir zur Abwechs­lung mal kei­ne blass-beige Lan­ge­wei­le schi­cken, son­dern etwas, das auf­fällt. Ich kann alle ver­ste­hen, die die­se Num­mer schreck­lich fin­den, ich wer­de sie sicher­lich nicht in Rota­ti­on hören, aber ich mag sie. Und das ist ein schö­nes Gefühl.

So wirkt das Gan­ze ‘live’: Jen­drik beim Voll­play­back-Auf­tritt in Flo­ri­an Sil­ber­ei­sens Schla­ger­bu­de im Ers­ten. Schla­ger­schwup­pe Ross Ant­o­ny ist jeden­falls ganz hin und weg! 

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Zuletzt aktua­li­siert: 01.02.2022

< Unser Lied für Rot­ter­dam 2020

Ger­ma­ny 12 Points 2022 >

11 Comments

  • Habe den Bei­trag jetzt schon mehr­mals gehört und muss sagen, dass er mir ein­fach nicht gefällt. Ich mag die­se Ste­fan Raab-Atti­tü­de des Lie­des über­haupt nicht (also mich zumin­dest erin­nert es an “Wad­de had­de dud­de da?”) und es geht mir jetzt schon gehö­rig auf den Sack.
    Aber ich stim­me die­sem Arti­kel zu. Eine muti­ge Wahl. Ich hof­fe wirk­lich, dass er mit einer Plat­zie­rung in der vor­de­ren Tabel­len­hälf­te belohnt wird. Ich traue Jen­drik es jeden­falls zu, in Sachen Aus­strah­lung beim Live-Auf­ritt zu punkten.
    Und neben­bei: Allei­ne wegen den wüten­den Tweets von eini­gen Rechts-Kon­ser­va­ti­ven hat sich die Aus­wahl die­ses Bei­trags schon mal gelohnt. Da kann ich es glatt ver­zei­hen, dass das Lied mir musi­ka­lisch nicht gefällt.

  • O je. Der Gut­men­schen-Song! Tut nicht weh, eckt nicht an, nett, lieb und trotz “mes­sa­ge” bie­der. Muss­te ja kom­men. Das soll das Bes­te aus 150 poten­zi­el­len Songs gewe­sen sein? Puh, ich pro­phe­zei­he wie schon nach den S!sters: Sor­ry, Ger­ma­ny: Zero points. NDR, hör end­lich auf mit dem Pushen dir geneh­mer Titel und Acts. Mit wem muss­te sich Jen­dirk “gut stel­len”, um mit die­sem Kin­der­ge­burts­tags-Lied­chen als deut­scher Ver­tre­ter erko­ren zu werden?

  • Mag ich das auf Anhieb? Nein! Ist das egal? Ja! Denn:
    Ers­tens bin ich super­su­per­SU­PER­hap­py dar­über, dass Deutsch­land end­lich mal wie­der was ris­kiert! Ist mir voll­kom­men egal, wie das abschnei­det, lie­ber mit Gran­dez­za auf die Fres­se fal­len als mit Seich auf Num­mer Sicher gehen. Von daher: Alles Gute, Jen­drik, und eine gei­le Zeit, egal wie es aus­geht! Go for it!
    (Zwei­tens bin ich in die­sem Jahr sowie­so Islän­de­rin. Aus ganz beson­de­ren Gründen.)

  • @Horny Guil­do: da ist er wie­der, der Begriff Gut­mensch. Fin­de ich total dane­ben. Nur weil jemand sich nicht vom all­ge­mei­nen Hass im Web nicht anste­cken las­sen möch­te und dage­gen ansingt ist er wie­der ein Gut­mensch. Als was bezeich­nest Du Dich denn dann? Ich ken­ne Jen­drik nicht, wür­de aber anhand des Lie­des ver­mu­ten, dass er ein guter Mensch ist und das ist auch gut so.
    Im Punkt „eckt nicht an“ liegst Du in mei­nen Augen auch falsch und Dein Kom­men­tar ist der bes­te Beweis.
    Im Gegen­teil ist der Song der­je­ni­ge von den ver­öf­fent­lich­ten, der bis­lang am stärks­ten polarisiert.
    Gefällt mir der Song? Da hal­te ich es mit ESClucas98 und Tama­ra. Nein, auch ich war nie ein Fan von Ste­fan Raab an des­sen Musik mich das Gan­ze stark erin­nert. Aber als Gesamt­pa­ket beginnt es lang­sam bei mir zu funk­tio­nie­ren. Jeden­falls haben wir nicht wie­der ein, wenn auch gut pro­du­zier­tes, aber auch total aus­tausch­ba­res Milanow‑G*son-Barker-Lied, was dann wirk­lich nir­gend­wo aneckt.

  • Vom Text her wüß­te ich nicht, wo der Song anecken soll. Wohl­fei­le Wor­te, gegen die nie­mand etwas ein­wen­den wird. Nice, immer auf der siche­ren Sei­te. Aber: Ver­packt in die­ses musi­ka­li­sche Nichts – aus jedem Dorf ein Hund – belie­big arran­giert, dürf­tig instru­men­tiert, noch ein biss­chen Tap­dance. sor­ry: gewollt und nicht gekonnt. “Flower Power” gegen Hater reicht nicht!

  • Ui, ein Bei­trag mit deut­schem Holzhammer-Humor!
    pas­send dazu die Musik und Video.
    I like!! Gera­de als Kon­trast­pro­gramm zu letz­tem Jahr als Deutsch­land den bul­ga­ri­schen Bei­trag schi­cken wollte.
    Und Jen­drik ist seit lan­gem mal wie­der ein Typ, der mich auch emo­tio­nal mitnimmt.
    Der macht sein Ding auch in Rot­ter­dam (oder Vil­ni­us), das wird nicht lang­wei­lig mit ihm.

  • So, gut 24 Stun­den spä­ter, den Song bewusst nur ein­mal gehört (indem ich das Video ange­se­hen habe), habe ich Refrain und den Blä­ser­satz immer noch in den Ohren bzw. wie­der. Schei­ße aber auch!
    Ich fin­de, man kann Schlech­te­res über ein Lied noch dazu einem, wel­ches sich einem Wett­be­werb stellt, sagen.
    Ob der Bei­trag in Rot­ter­dam ankom­men wird? Kei­ne Ahnung. Eine Pro­gno­se über so etwas, das eini­ge Hör­ge­wohn­hei­ten – und ich ver­mu­te, auch visu­ell so eini­ges – sprengt, ist eigent­lich nicht mög­lich. Kann genau­so funk­tio­nie­ren wie auch total in die Hose gehen. Vor­her­sa­gen aber kann man, dass die Song-Inter­pre­ten-Kom­bi­na­ti­on her­aus­ste­chen wird. Das ist/wird alles ande­re als lang­wei­lig. Inso­fern bin ich sehr posi­tiv mit dem deut­schen Bei­trag, hier hat man sich was getraut.

  • I like. Es ist lus­tig und trotz­dem nicht pein­lich. An Horn und Raab denk ich über­haupt nicht. Viel mehr an Alf Poier, näm­lich dann, wenn der Song vom Refrain in den power­haf­ten Break geht. Fast wie bei “Weil der Mensch zählt.”

  • Mich erin­nert es am ehes­ten an den Schnurr­bart-Song von Twin Twin. Das ist ja damals nicht ganz so gut aus­ge­gan­gen. Nicht, dass ich Jen­drik die­ses Schick­sal an den Hals wün­sche, aber ich fürch­te, die­ser “Jetzt sind wir alle mal ganz lustig”-Humor kommt außer­halb von Deutsch­land nicht so recht an.

  • Was für eine tol­le muti­ge Num­mer mit Bot­schaft von Deutsch­land… end­lich mal kein 08 / 15 Popgeseiere…Hab jetzt schon nen Ohrwurm..und nach dem Play­back Auf­tritt beim Schlagerstadl…kann man nur sagen: Der wirdc dat Ding rocken

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