Zwanzig Jahre lang leitete Christer Björkman das Melodifestivalen und machte in dieser Zeit aus dem schwedischen Auswahlverfahren eine Versuchsküche für das internationale Eurovisionsfinale sowie das sowohl innerhalb als außerhalb des Landes meistbeachtete Event der Vorentscheidungssaison. Und das, obwohl die dort präsentierten Beiträge gerade in den letzten Jahren diesen Status nicht immer rechtfertigten. Heute gab er seine Abschiedsvorstellung in dieser Rolle und führte gemeinsam mit dem weiterhin einfach unglaublich attraktiven Måns Zelmerlöw durch den wie immer unterhaltsamen Abend. Überschattet von dem absolut unverzeihlichen Verlust der beiden herrlichen steinalten Schlagerschachteln Ewa Roos und Eva Rydberg in der Andra Chansen am vergangenen Samstag, kämpften heute zwölf Acts um das Ticket nach Rotterdam, und im Gegensatz zu dem beim Mello sonst oft üblichen Kopf-an-Kopf-Rennen stand diesmal ein eindeutiger Erdrutschsieg am Ende.
Das werde ich Euch nicht in tausend Jahren vergeben, Schweden: die beiden Evas mussten draußen bleiben. Schande über Euch!
Doch zäumen wir das Pferd von hinten auf: am unteren Tabellenende verendeten drei Männer, die außer gutem Aussehen nicht viel zu bieten hatten. Bei Paul Rey beantwortete sich die von ihm aufgeworfene Frage nach dem ‘Missing Link’ sehr schnell: der unterdurchschnittliche Popsong in Verbindung mit seiner fehlenden Ausstrahlung gaben wohl der Ausschlag dafür, dass ihn die Televoter:innen komplett ignorierten und auch Christers Kumpel-Club alias die internationale Jury ihn nur spärlich mit Punkten bedachte. Bei besagtem Club fand übrigens diese Woche noch ein hektischer Austausch statt: nach dem Eklat um den belarussischen Beitrag ersetzte man den Juroren aus nämlicher Diktatur rasch gegen einen aus Großbritannien. Alvaro Estrella servierte mit ‘Baila baila’ eine derartig unerträgliche Ansammlung billiger Strandschlager-Klischees und Fire-Desire-Reime, dass im Vergleich zu ihm sogar Marquess authentisch klingen. Anton Ewald konnte zwar hübsch tanzen, dafür jedoch nicht singen und keine überzeugende Antwort auf die Frage liefern, warum man zu seiner ‘New Religion’ konvertieren sollte, wo doch mit Charlotte Perrelli eine echte Grand-Prix-Göttin antrat, vor derem Altar es sich seit einem knappen Vierteljahrhundert huldigen lässt. Passend zum Titel ihres nostalgischen Discofoxschlagers ‘Still young’ legte ihr Gesicht erneut Zeugnis ab von den Möglichkeiten der modernen Schönheitschirurgie.
In den Jungbrunnen gefallen: das Lottchen.
Noch immer erstaunlich jung, gerade im Vergleich mit Christer Björkmans furchentiefem Faltenface, wirkten auch die Herren der Dansband Arvingarna, deren ESC-Geschichte nur ein Jahr weniger weit zurückreicht als die des Impresarios: sie nahmen 1993 am Song Contest teil, nur ein Jahr nach Christer. Ihr aktueller Beitrag ‘Tänker inte alla gå hem’ erregte vor allem aufgrund der phonetischen Ähnlichkeit seiner Titelzeile zum englischen ‘Take it in the Arse’ Aufsehen, und die Jungs spielten diese Doppeldeutigkeit im Finale augenzwinkernd aus. Im Mittelfeld landeten die beiden vorher teils hoch gehandelten Klara-Ströme: während Klara Hammarström sich für ihren eher uptemporären ‘Beat of broken Hearts’ eines abgelegten Bühnenkostüms aus dem Starlight-Express-Schlussverkauf bediente, verwirrte Clara Klingenström bei ihrer deprimierenden Ballade ‘Behöver inte dig idag’ mit einer völlig unpassenden Kombination aus Springerstiefeln, Lagerfeuergitarre und schulterfreiem Paillettenkleidchen. Nur unwesentlich besser lief es für Dotter und ihr grundegales ‘Little Tot’.
Das Mello-Finale 2021 am Stück.
Immerhin noch für einen Medaillenrang reichte es für die absolut adorablen Vorjahressiegerinnen The Mamas, die als menschgewordene Ferrero-Rocher-Kugeln antraten, mit ‘In the Middle’ jedoch leider nur einen ziemlich mittelmäßigen Song im Gepäck hatten. Sehr eindeutig ging diesmal die Wiederholung des musikalischen Schwanzvergleichs zwischen Danny Saucedo und Eric Saade aus dem Jahre 2011 aus. Der blonde Danny blieb mit dem in einem beweglichen Paketverteilzentrum überzeugend vorgetanzten ‘Dandi Dansa’ seinem Thema treu, zog mit einem enttäuschenden siebten Platz aber eindeutig den Kürzeren gegenüber seinem dunkelhaarigen Erzrivalen Eric, der uns mit ‘Every Minute’ eine Art songgewordenen Samenstau präsentierte und uns ausführlich darüber informierte, wann er “es” am liebsten mache. Das war erstaunlich sexy, reichte aber leider nur für die Silbermedaille. Wobei Eric für den größten Abstand zwischen Tele- und Juryvoting verantwortlich zeichnete.
Erstaunlich, wo er neben dem Tanzen noch die ganze Energie für seine morgens, abends und am Wochenende ausgeführte Lieblingsbeschäftigung hernimmt: Eric “Stamina” Saade.
Fast doppelt so viel Zuspruch von den Zuschauer:innen (und zehn Stimmen mehr von den Jurys) konnte indes der neunzehnjährige Tousin Michael Chiza erringen. Der kam 2015 als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling aus der DR Kongo nach Schweden, wo er 2019 die Castingshow Idol gewann. Mittlerweile nennt er sich Tusse, was perfekt zu seinem flamboyant-androgynen Auftreten passt. Seine mit starker Stimme vorgetragene Midtempo-Pophymne ‘Voices’ gehört nun nicht zu der Art von Musik, die mich auf irgendeiner Ebene emotional erreicht, kann aber zumindest mit einer vorschriftsmäßigen Rückung im letzten Refrain überzeugen. Für den schönsten Moment des Abends sorgte der supersympathische Sänger nach seiner Siegerakklamation, als er vor Freude wie ein Grashüpfer über die Bühne sprang und er die Mamas, die ihm die Trophäe überreichten, nicht nur quietschend vor Freude umarmte, sondern sich auch ihrer huldigend vor ihnen auf die Knie warf. Eine zutiefst berührende Geste der Wertschätzung, die ihm die drei Diven mit Verbeugungen sofort zurück spiegelten. An dieser Stelle hatte ich dann doch ein bisschen Pipi in den Augen.
Der rote Hosenanzug erinnert ein bisschen an Plastic Bertrands Sekretärinnen-Chic beim ESC 1987, wirkt in Verbindung mit dem glitzernden Geschmeide aber sehr viel queerer und stylisher: Tusse. (Plus sämtliche Mello-2021-Beiträge als Playlist.)
Vorentscheid SE 2021
Melodifestivalen. Samstag, 13. März 2021, aus dem Annex in Stockholm, Schweden. 12 Teilnehmer:innen. Moderation: Christer Björkman, Måns Zelmerlöw und Shima Niavarani.# | Interpreten | Songtitel | Televote | Jury | Platz |
---|---|---|---|---|---|
01 | Danny Saucedo | Dandy Dansa | 35 | 39 | 07 |
02 | Klara Hammarström | Beat of broken Hearts | 36 | 43 | 06 |
03 | Anton Ewald | New Religion | 16 | 09 | 11 |
04 | The Mamas | In the Middle | 56 | 50 | 03 |
05 | Paul Rey | The missing Piece | 07 | 18 | 12 |
06 | Charlotte Perrelli | Still young | 28 | 32 | 08 |
07 | Tusse | Voices | 96 | 79 | 01 |
08 | Alvaro Estrella | Baila baila | 19 | 07 | 10 |
09 | Clara Klingenström | Behöver inte dig idag | 52 | 39 | 05 |
10 | Eric Saade | Every Minute | 49 | 69 | 02 |
11 | Dotter | Little Tot | 48 | 57 | 04 |
12 | Arvingarna | Tänker inte alls gå hem | 22 | 22 | 09 |
Ja, typisch Schweden! Zwar hat mal wieder nicht das Lied gewonnen, welches ich gerne beim ESC gesehen hätte (“Little Tot”), aber mit dem Sieger kann ich sehr gut leben. Eric Saade hätte mich etwas aufgeregt. Für mich ist es immer noch sein schwächster Mellosong bisher! Sehr erfreulich habe ich das Ergebnis von Clara Klingenström wahrgenommen. Den fünften Platz hat sie mehr als verdient! War für mich gestern ein Geheimfavorit. Aber die Hammarström war auch in Ordnung. Verdient auch die rote Laterne für Anton Ewald, der scheinbar zum dritten Mal in Folge das selbe Lied beim Mello eingereicht hat. Ich frage mich immer noch, warum man sowas direkt ins Finale wählen kann um es dann mit sieben Punkten dort abzustrafen. Alles in allem mal wieder ein sehr unterhaltsamer Abend aus Stockholm! Und Herrn Björkman wünsche ich nen schönen Ruhstand, auch wenn ich nicht immer alles gut fand was er im Bezug zum Melodifestivalen und dem ESC gemacht hat.
Mein Lieblingsmoment war ja, als Tusse ganz am Anfang der Siegesverkündung Erik Saade ansprang, mit seinen Beinen dessen Knie umklammerte und ihn abbusselte wie ein rammelndes Hündchen.
Lied und Vortrag finde ich für einen Schwedenplastiksong aus der Retorte ganz ok, aber halt Mittelmaß (auf jeden Fall besser als diese stinklangweilige Eigelb).
Ein Freund, der nur das Lied sah, hielt Tusse tatsächlich für ne Frau. Wenn ich es mir mit der Brille nochmal anschaue, gefällt es mir sogar noch etwas besser…