Was ist das nur mit den Belgier:innen und ihren italiophilen Connections? Das Gastarbeiterkind Rocco Granata schaffte seinen europaweiten Durchbruch mit dem selbst geschriebenen Millionenseller ‘Marina’ von seiner damaligen Heimat Belgien aus; die bis zum heutigen Tage einzige Grand-Prix-Siegerin des Pommes-Frites-Staates, Sandra Kim, verfügt ebenfalls über Vorfahren aus dem Pizza-und-Pasta-Land; und der letztplatzierte Titel der belgischen Eurovisionsvorentscheidung von 1963, bizarrerweise veranstaltet unter dem Titel Canzonissima (den eigentlich die Rai für eine in ihrem Programm jahrzehntelang laufende, sehr beliebte Revueshow verwendete), hieß ‘Con Amore’, gesungen von einer Dame mit dem Namen einer ukrainischen Puffmutter und einer nachgerade sensationellen Marge-Simpson-Frisur. Der Lieve Olga wurde es womöglich zum Verhängnis, dass man ihr eine Voliere als Bühnendekoration hingestellt hatte, die dort eingesperrten Vöglein jedoch während ihres Vortrags ständig versuchten, die Flucht zu ergreifen. Verständlicherweise.
Oder fühlten sich die Tierchen durch Olgas Vogelnestfrisur magisch angezogen?
Bob Benny, der belgische Eurovisionsvertreter von 1959 und 1961, sorgte im Vorfeld für einen Eklat: wie alle Partizipant:innen des flämischen Vorentscheids nahm er an einer Serie von insgesamt neun (!) Vorrunden teil, in denen er gleich zwei Titel im Rennen hatte. Allerdings schmiss die verantwortliche TV-Anstalt Bennys Song ‘Mijn kleine blauwe Zwalw’ kurzfristig aus dem Programm, weil der Liedtext bereits vor der Sendung veröffentlicht wurde: eine unverzeihliche Sünde in den Augen der Offiziellen, verschaffte dies dem Sänger ihrer Meinung nach doch einen, wenn auch minimalen, Startvorteil. Erinnert in seiner Absurdität ein wenig an das ebenfalls unfreiwillige Aus von Gitte Hænnings ‘Jeg snakker med mig selv’ beim dänischen Melodi Grand Prix im Vorjahr und zeigt, mit welchem heiligen Ernst die europäischen TV-Station seinerzeit den Wettbewerb behandelten. Benny schäumte vor Wut – und sang aus Protest die Lyrics des inkriminierten Titels zur Melodie seines nicht disqualifizierten Beitrags ‘Boerenwals’ (‘Bauernwalzer’). Als Konsequenz dieser unglaublichen Insubordination strich der flämische Sender auch dieses Lied und Bob Benny von der Liste der zugelassenen Vorentscheidungskandidaten. Mal abgesehen von diesem unterhaltsamen Sturm im Wasserglas herrschte im Finale des belgischen Vorentscheids 1963 jedoch tödliche Langeweile. Man mag sich gar nicht vorstellen, welcher Driss in den Semis kleben blieb: die sechs verbliebenen Beiträge zeichneten sich samt und sonders durch das Fehlen jedweder Melodie oder auch nur der geringsten Spuren von Pepp aus.
Besonders bizarr: als seien die mauen Finaltitel nicht schon Strafe genug, mussten die belgischen Zuschauer:innen sie gleich zwei mal über sich ergehen lassen (komplettes Finale).
Was es als um so sadistischer erscheinen lässt, dass der Sender die TV-Zuschauer:innen und das anwesende Studiopublikum bis aufs Blut quälte, in dem zum Auftakt der Finalshow zunächst die weithin unbekannte Sängerin Anita Berry gleich fünf der sechs Titel vom Blatt ablesend zum Vortrage brachte (für die Ballade ‘Waroom?’ lieh man sich John de Mol aus den Niederlanden aus) und danach erst in einer zweiten Runde die eigentlichen Interpret:innen die Lieder singen durften. Zu ihnen zählte die als Liliane Couck geborene Lize Marke mit ihrem passend zu ihrem konsumfreudigen Künstlerinnennamen ausgewählten Werbesong für besonders feines Geschirr aus Meißen, das allseits begehrte ‘Saksisch Porselein’. Gute Güte: holländisch ist nun aber auch wirklich eine besonders unattraktive Sprache (und ja, mir ist die Ironie dieser Aussage im Zusammenhang mit Sachsen durchaus bewusst)! Markes gesungene Aussteuerwunschliste schaffte es jedenfalls in der Gesamtwertung aus Publikums- und “professioneller” Jury auf den vierten Rang. Ihr zweiter Beitrag ‘Luister naar de Wind’, mit dem sie anschließend einen kleinen Hit im Heimatland landete, verfehlte den Sieg nur um drei Punkte. Pikant: den Beinahesieg verdankte sie ausschließlich der “Profi”-Jury, bei den Laien landete sie damit auf dem letzten Rang.
Über echtes Meißner Porzellan verfügt die alte Erbtante, und nur deswegen bekommt sie von Lize noch Besuch.
Das ausgesprochen knappe Ergebnis sorgte für vernehmliches Gegrummel im Saalpublikum, welches bereits die verdächtig wenigen Punkte der “professionellen” Jury für die liebe Olga mit wütenden Buhrufen und Pfiffen quittiert hatte. Die 1965 vom flämischen Sender dann eben intern zur Eurovisionsvertreterin bestimmte und im Lande noch bis Mitte des nächsten Jahrzehntes vor allem mit niederländischen Interpretationen internationaler Hits erfolgreiche Lize Marke, die in den folgenden Jahren auch den einen oder anderen Grand-Prix-Song coverte, unterlag hier trotz der Schützenhilfe der Jury einem Castingshow-Knilch. Nämlich dem als Jozef Remon geborenen Sänger Jacques Raymond (merke: auf französisch klingt so ein Name doch gleich viel eleganter!). ‘Waroom?’ – tja, das fragten sich sicher nicht nur die haarscharf geschlagene Lize, sondern auch die Juroren beim Wettbewerb in London, die seine furchtbare Seichtschnulze mit einem auch im Lichte der schwachen Konkurrenz noch immer massiv überbewerteten Mittelfeldplatz abspeisten. Noch weniger Glück brachte der Titel dem – hier schließt sich der Kreis wieder – gebürtigen Italiener und schweizerischen Vertreter von 1968, Gianni Mascolo, der sich Teile der Melodie von ‘Waroom?’ für den Refrain von ‘Guardando di Sole’ auslieh und trotz (oder wegen) seines deutlich engagierteren Vortrags ganz weit hinten abschloss.
Der populäre Jacques konnte sich trotz versuchter Jury-Schiebung das ESC-Ticket ersingen. Leider.
Jozef – Verzeihung: Jacques – kam 1971 nochmals zu einem Eurovisionseinsatz, dort gemeinsam mit der Sängerin Lily Castel als kurzfristige einspringende Krankheitsvertretung für das eigentlich ausgewählte Kult-Schlager-Pärchen Hugo & Nicole.
Vorentscheid BE 1963
Canzonissima. Samstag, 16. Januar 1963, aus dem Amerikanischen Theater in Brüssel. Fünf Teilnehmer:innen. Moderation: Denise Maes & Bob Boon.# | Interpret:in | Titel | Jury | Publikum | Gesamt | Platz |
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01 | Lize Marke | Saksisch Porselain | 124 | 123 | 247 | 4 |
02 | Rina Pia | Er speelt en Orgel | 147 | 127 | 274 | 3 |
03 | Jo Leemans | Zo mooi | 114 | 127 | 241 | 5 |
04 | Lieve Olga | Con Amore | 060 | 126 | 186 | 6 |
05 | Jacques Raymond | Waarom | 114 | 178 | 292 | 1 |
06 | Lize Marke | Luister naar de Wind | 169 | 120 | 289 | 2 |
Letzte Aktualisierung: 12.10.2022
Das im Käfig sind übrigens die ESC-leiderprobten Vogels van Holland, die extra importiert werden mussten, weil gewöhnliche Vögel beim ersten guttural‑G der Flämin sofort tot von der Stange gefallen sind.
Das Lied der Olga “Com ampiezza” ist übrigens ein grauenhafter Mega-Schmarrn, nur überboten von dem “Sexistischen Porzellan” der Lize Marke, das nach ihrer Nicht-Qualifikation ja bekanntlich von der Holländerin ausgeliehen werden durfte.
So hilft man sich unter Nachbarn !