Business as usual beherrschte die deutsche Vorentscheidung im Jahre 1981. Der Bayerische Rundfunk führte nach dem nur haarscharf verpassten Beinahesieg von Katja Ebstein (die zum Dank heuer stockend moderieren durfte) das Konzept der beiden letzten Jahre unverändert fort. Selbst die Studiodekoration blieb die gleiche. Stutzig machte indes das weitestgehende Fehlen prominenter Namen und das miserable künstlerische Niveau – dass es im Verlaufe des anstehenden Jahrzehnts in noch abgründigere Tiefen sänke, vermochte man sich zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht vorstellen. Das hatte mit einem popmusikalischen Gezeitenwechsel zu tun, den man in München hartnäckig ignorierte. Während in den Verkaufscharts mit Ideal (‘Eiszeit’) und Rheingold (‘Dreiklangsdimensionen’) die ersten kommerziell erfolgreichen Vorboten einer vom Punk und New Wave inspirierten (und bald dem Ausverkauf preisgegebenen) Revolution namens Neue Deutsche Welle auftauchten, zog es der BR vor, sich beim Vorentscheid nach dem Motto “Augen zu und durch” auf den Schlagerfriedhof zu verkriechen. Auch wenn dies bedeutete, die kulturelle Glaubwürdigkeit des Wettbewerbs zu verspielen.
Tiefgefroren, tiefgekühlt: niemand beschrieb die Gefühlslage der Jugend Anfang der Achtziger so gut wie Ideal (Repertoirebeispiel).
Und so machte der singende Missionarssohn Paul Janz, der bereits als Kind mit seinen Eltern von Kanada in die Schweiz übergesiedelt war, um die Heiden im gottlosen Europa zu bekehren, den Auftakt. Katja Ebstein, wie ihre Eurovisionskolleg:innen Inge Brück und Dino Merlin selbst Mitglied bei den Künstlern für Christus, übernahm seinen Agitationstitel ‘Steine’ später ins eigene Repertoire. Die Rockerbraut und ehemalige Lehrerin Marianne Rebesky versuchte sich nun schon seit einer Dekade unter dem Namen Nina Martin an einer Popkarriere. Doch der Durchbruch sollte ihr auch hier nicht gelingen, obschon ihr selbstgeschriebenes Stück über die ‘Männer’ in all ihrer Vielfalt durchaus mit Originalität zu gefallen wusste. Und in einem (von der BR-Zensur offenbar übersehenen) Halbsatz sogar eingestand, dass manche Damen andere Frauen Männern vorziehen: zu dieser Zeit noch immer ein öffentliches Tabu. Der auf Jakarta geborene Niederländer Taco Ockerse, der im Jahr darauf mit einem elektronisch verfremdeten Cover des Swing-Klassikers ‘Puttin’ on the Ritz’ zum weltweiten One-Hit-Wonder avancierte, landete bei seinem ersten Fernsehauftritt mit dem bodenlos schlechten Schlagerlein ‘Träume brauchen Zeit’ zu Recht auf dem letzten Platz. Dafür bereicherte er den deutschen Vorentscheid um eine der unfreiwillig lustigsten Tanzdarbietungen seiner Geschichte.
Tacos Tanzstil zeigte sich seiner Zeit voraus: Vogueing wurde erst Ende der Achtziger zum Phänomen. (Plus Playlist mit den fünf verfügbaren Clips.)
Zu den regionalen Skurrilitäten dieser Sendung zählte der Wiesnschlager ‘Moment’ (“…das Hemd ist eingeklemmt”) aus der Feder des Müncheners Lorenz Schadhauser, dessen Pseudonym Lenz Hauser auf den sogenannten “Millionenbauer” rekurrierte, einen Ende des 19. Jahrhunderts durch Grundstücksspekulation reich gewordenen und für seinen ausschweifenden Lebensstil berüchtigten Bauernsohn aus einem eingemeindeten Vorort der Metropole. Die bajuwarische Blödelnummer bombte zwar beim Vorentscheid, verschaffte seiner Showband aber Auftritte im In- und Ausland. Seit 2007 führt Lorenz Hauser ein Eventlokal auf Gran Canaria. Dass der 2010 ertrunkene Sohn des Showmasters Joachim “Blacky” Fuchsberger (Auf Los geht’s los), Tommy Fuchsberger, hier ein selbst verfasstes, über alle Maßen lahmes Schnülzchen namens ‘Josefine’ zu Gehör bringen durfte, lässt sich wohl eher den TV-Beziehungen seines Vaters zuschreiben als Tommys Talent. Wie immer, wenn bei einem Musikwettbewerb auch Menschen jenseits der Fünfzig abstimmen dürfen, schmuggelte sich ein verstaubter Rock’n’Roll-Schlager in die Top 3, hier der von Martin Mann (bürgerlich: Mario Löprich) besungene ‘Boogie Woogie’, der bei der Grauhaarfraktion wohl Erinnerungen an ihre Tanzstundenzeit weckte. Insofern witzig, dass Manns Eltern in Wiesbaden selbst eine solche besaßen.
“Echt bayerischer Charme”: so kann man diesen Benny-Hill-Humor auch umschreiben.
Dem Rockabilly verpflichtet fühlte sich auch die Hamburger Formation Leinemann (‘Volldampf-Radio’), die gegen ihren früheren Bassisten Uli Salm alias Rudolf Rock antreten musste und ihn mit ihrer Vorentscheidungsgurke über ‘Das Ungeheuer von Loch Ness’ sogar überholte. Als Grand-Prix-Phänomen lässt sich der aus dem Ruhrgebiet stammende Schlagerist Jürgen Renfordt klassifizieren. Er legte hier seinen ersten von insgesamt drei Vorentscheidungsauftritten hin, von denen nicht einer im kollektiven Gedächtnis blieb. Die Verkaufscharts sah Renfordt ebenfalls nie von innen. Wohl aber das Sendestudio der Schlagerwelle WDR4, wo er als Moderator anheuerte und wo dann auch irgendwann mal seine 1988 in der Vorauswahl rausgeflogene Schnulze ‘Zu verkaufen: ein schneeweißes Brautkleid’ in der Rotation lief. Am progressivsten, im Sinne von: am wenigsten eingestaubt, erschienen die zwei von Musikproduzent Michael Cretu (Spliff, Sandra, Enigma) verfassten Nummern. Nämlich die für besagten Rudolf Rock & die Schocker (‘Mein Transistorradio’: eine Kreuzung aus [schon wieder] Rock’n’Roll-Schlager und homöopatischsten New-Wave-Anleihen, mit der auch die Spider Murphy Gang große Erfolge feierte). Sowie für den als Waldmeister-Weichschaum-Variante von Rainhard Fendrich positionierten Wiener Liedermacher und Sänger Peter Cornelius, der im selben Jahr mit ‘Du, entschuldige, i kenn di’ seinen ersten schmusesanft-einlullenden Top-Hit erzielte und sich hier mit ‘Träumer, Tramps und Clowns’ an den Erfolg des thematisch eng verwandten Vorjahressiegers ‘Theater’ anwanzen wollte.
Vier Lieschen Müllers machen einen auf ‘Mannequin’: die Hornettes.
Doch warum die Kopie wählen, wenn man das Original haben kann? Ralph Siegel hatte erneut zwei Eisen im Feuer: erstens den wirklich besinnungslos üblen Kindergeburtstagsschlager ‘Mannequin’ der Retortenkapelle The Hornettes (oder auch Ralphies Reste Rampe, in der unter anderem Linda G. Thompson und Gitta Walther von der Love Generation Unterschlupf fanden), der schockierenderweise den zweiten Platz belegte. In welchen Altersheimen hat Infratest denn da wieder abstimmen lassen? Sowie, zweitens, den passend zum aktuellen Jahr des Blinden verfassten, harmonikagesättigten Tränenzieher ‘Johnny Blue’. Die so schön wie keine Zweite im Schlagerwesen das “R” fränkisch rollende, als Anelė Luise Valaitytė im Memelland geborene Lena Valaitis steuerte ihre wundervolle, warm und dunkel timbrierte Stimme bei und auch ihr männlicher Backgroundchor holte mit vollem Einsatz alles an Drama heraus, was aus dieser (vom Liedaufbau her deutlich der Struktur des monegassischen Siegertitels von 1971, ‘Un Banc, un Arbre, une Rue’ folgenden) Superkitschnummer herauszuholen war. Da kam Lena ihre Ausbildung bei der Deutschen Bundespost zugute: wie man liefert, hatte sie gelernt! Die herzzerreißende Geschichte über den böse gemobbten blinden Jungen, der alle mit der “Krrraft” seiner Stimme verzaubert, ließ kein Auge unbenetzt. Und so siegte Frau Valaitis mit deutlichem Vorsprung vor der Konkurrenz aus eigenem Hause.
Die Krystle Carrington des deutschen Schlagers: Lena Valaitis.
Was Ralph Siegel, so berichteten mir bestens informierte Kreise, über die Maßen erbost haben soll. Der hatte fest auf einen Sieg der schrecklichen Hornettes gesetzt, das Festbankett bereits gebucht und war nun den restlichen Abend über damit beschäftigt, die vier Kirmesmusikantinnen zu trösten, während Lena sich die Zeit alleine vertreiben musste. Dabei ist nun gerade ‘Johnny Blue’ unter all seinen Kitschliedern das mit Abstand schönste, weil lyrisch (Text wie immer: Bernd Meinunger) schamloseste! Bei der – natürlich durch eine mysteriöse Jury durchgeführten – Vorauswahl unter den angeblich über sechshundert eingereichten Liedvorschlägen fiel übrigens ein Song durch, der nur kurze Zeit später die Verkaufscharts aufrollte: ‘Flieg nicht so hoch, mein kleiner Freund’. Ein ausnahmsweise nicht von Ralph Siegel verfasster, dramatischer Lagerfeuer-Schlager, der eine dermaßen grausame Allegorie auf die Neugierde und die damit verbundenen Risiken erzählte (“wer so hoch hinaus will, der ist in Gefahr”), dass bei mir als damals vierzehnjähriger Camp-Else beim Hören die Tränen in Sturzbächen flossen. Eine gewisse Saarländerin ließ ihn bis auf Platz 2 fliegen: ob Sie, liebe Leser:innen, wohl draufkommen, wer es war?
L’Oiseau et l’Enfant: Nicoles dramatischster Tränenzieher.
Doch selbst wenn dieser Titel den tatsächlich zugelassenen Vorentscheidungsbeiträgen (der Vollständigkeit halber sei der Hinweis meines Leser Fred ergänzt, dass auch die hyperaktive Maggie Mae mit dem atemlos temporierten [schon wieder!] Rock’n’Roll-Schlager ‘Jet Set’ an dieser Schwelle scheiterte) nicht nur kommerziell deutlich überlegen war: aus heutiger Sicht erscheint es als Gnade, dass er an der Vorauswahl-Jury scheiterte und in München nicht dabei sein konnte. Hätten sich doch sonst die Stimmen der Drama-Kitsch-Anhänger:innen vermutlich zu gleichen Teilen auf Nicole und Lena aufgespalten. Und am Ende, man möchte sich das Grauen gar nicht ausmalen, doch noch die Hornettes (die es 1983 mit dem ebenfalls besinnungslosen [noch einer!] Rock’n’Roll-Schlager ‘Hello, Mr. Radio’ erfolglos bei der österreichischen Vorentscheidung versuchten) mit ihrem wirklich furchtbaren, furchtbaren Lied gewonnen! So aber kam Frau Valaitis zu ihrem größten (wenn auch leider letzten) Hit und die erst am Anfang ihrer langanhaltenden Schlagerkarriere stehende Frau Hohloch konnte im Folgejahr den ersten deutschen Eurovisionssieg eintüten. Insofern, in diesem einen Falle: Merci, Jury!
Unverständlicherweise ein Flop: Lenas Nachfolgesingle ‘Rio Bravo’ (Repertoirebeispiel), gewissermaßen das deutsche ‘Fernando’.
Wobei mich das anschließende kommerzielle Karrieretief Lenas vollkommen ratlos hinterlässt: sowohl mit ihrer offenhörbar im ehrlichen Frau-gegen-Frau-Faustkampf gegen Henriette Heichel aus dem Dschinghis-Khan-Fundus errungenen, packenden Westerndrama ‘Rio Bravo’ als auch mit dem Gefahren-der-Großstadt-mahnerischen Umberto-Tozzi-Cover ‘Gloria’ bereicherte die schöne Litauerin das heimische Popgeschehen um zwei funkelnd strahlende Schlagerperlen, bei denen mir ihr rollendes “R” erneut diverse Ohrgasmen bescherte. Mit ‘Wenn der Regen auf uns fällt’, ihrer im Duett mit Costa Cordalis vorgetragenen Eindeutschung des Campklassikers ‘When the Rain begins to fall’, schenkte sie uns 1984 zudem noch einen echten Trash-Höhepunkt. 1992 unternahm sie mit der ebenfalls von Siegel verantworteten, melancholischen Balkankriegs-Ballade ‘Wir sehn uns wieder’ einen erneuten Versuch beim Grand-Prix-Vorentscheid, leider vergeblich. Warum sie allerdings glaubte, zwei Jahre nach dem Sieg ihrer Vornamensvetterin Lena Meyer-Landrut beim ESC in Oslo den Beitrag der aserbaidschanischen Konkurrentin Safura, ‘Drip Drop’, als ‘Ich will alles’ covern zu müssen, soll ihr Geheimnis bleiben: trotz mehrerer TV-Einsätze schaffte es der Titel nicht über eine Promo-Single hinaus.
Außer Spesen nix gewesen: das verspätete Safura-Cover floppte ebenfalls.
Doch noch einmal zurück nach München anno 1981, denn ein letzter Kommentar zum Lied für Dublin brennt mir noch auf den Nägeln. Und zwar zum dortigen Einsatz des ARD-Wahlberichterstatters Rudolf Rohlinger, der mit seinen sachkundigen Bemerkungen das stets genauso langwierige wie spannungsarme Stimmauszählungsverfahren etwas auflockern und durch die Verbindung mit politischen Wahlen offenbar mit etwas mehr Relevanz aufladen sollte. Für sich genommen eine schöne und innovative Idee, nur kann man seinen Moderationspart aus heutiger Sicht nicht mehr ohne massiven Fremdscham anschauen. Nämlich im Hinblick auf Rohlingers unerträgliches Mansplaining gegenüber Katja Ebstein und der bedauernswerten Infratest-Leiterin Frau Dr. Köhler, der er nicht nur ständig Fragen stellte, sie diese dann aber nicht beantworten ließ, weil er dafür ja wenigstens eine Minute mal die Pappn hätte halten müssen, sondern sie auch noch von der Ausübung ihres Jobs abhielt (“Sie stören mich jetzt schon ein bisschen sehr!”). Das solch ein – damals vollkommen übliches – Verhalten uns heute vor Cringe auf dem Boden wälzen lässt, belegt immerhin, dass wir uns seither gesellschaftlich fortentwickelt haben. Wie schön!
“Leichte musikalische Unterhaltung” annoncierte Katja Ebstein für den deutschen Vorentscheid 1981.
Deutsche Vorentscheidung 1981
Ein Lied für Dublin. Samstag, 28. Februar 1981, aus dem Studio 4 des Bayerischen Rundfunks in München-Unterföhring. 12 Teilnehmer:innen, Moderation: Katja Ebstein. Demoskopische Umfrage.# | Interpreten | Songtitel | Televote | Platz | Charts |
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01 | Janz | Steine | 2355 | 10 | - |
02 | Nina Martin | Männer | 2292 | 11 | - |
03 | Taco | Träume brauchen Zeit | 2269 | 12 | - |
04 | Lenz Hauser | Moment | 2856 | 08 | - |
05 | Tommy Fuchsberger | Josefine | 2956 | 07 | - |
06 | Rudolf Rock & die Schocker | Mein Transistorradio | 2735 | 09 | - |
07 | Lena Valaitis | Johnny Blue | 5023 | 01 | 09 |
08 | Martin Mann | Boogie Woogie | 4039 | 03 | - |
09 | Jürgen Renford | Barfuß durch ein Feuer | 3963 | 04 | - |
10 | Leinemann | Das Ungeheuer von Loch Ness | 3921 | 05 | - |
11 | The Hornettes | Mannequin | 4304 | 02 | 27 |
12 | Peter Cornelius | Träumer, Tramps und Clowns | 3769 | 06 | - |
Letzte Aktualisierung: 07.11.2022
Mein Favorit (leider schon in der Vorauswahl ausgeschieden): https://www.youtube.com/watch?v=ae1eVm6os3U