Mit Riesenschritten nähern wir uns dem Ende der Vorentscheidungssaison 2019. Mit dem Finale des schwedischen Melodifestivalen steht an diesem Samstag der letzte öffentliche Vorentscheid an. Ausgerechnet all jene Nationen, die zu faul oder zu geizig waren, einen solchen zu organisieren, haben sich nun verabredet, Fans und Eurovisionsblogger in den Stressinfarkt zu schicken, in dem sie all ihre – teils seit vielen Wochen im Tresor gebunkerten – Beiträge mehr oder minder gleichzeitig veröffentlichten. Den Beginn in unserer kleinen Werkschau macht das mittlerweile auch vonseiten der EBU offiziell umbenannte Nordmazedonien, das als einzige der beteiligten Nationen einen validen Grund vorweisen kann, seinen Song heute – am Internationalen Frauentag – herauszubringen. Handelt es sich bei ‘Proud’ doch um eine Ballade zum Thema der weiblichen Selbstermächtigung, die den zusammengecasteten deutschen Sisters, die mit dem gleichem Sujet unterwegs sind, zeigt, wo der Hammer hängt. Und zwar sowohl musikalisch, wo nach einem etwas spröden, verhaltenen Anfang ein zwar schon hundertmal gehörter, aber gerade deswegen sofort mitsingbarer Refrain kommt und wo der Song nach einer zweiten Strophe ziemlich unvermittelt in die Vollen geht und dabei fast schon gospelhafte Qualitäten entwickelt.
Das Alphaweibchen: Tamara Todevska führt die Schwesternschaft auf die Barrikaden. Recht so!
Aber auch textlich: wie dem deutschen Beitrag wohnt ‘Proud’ ebenfalls ein direkter Appell inne, der sich jedoch nicht in vergleichsweise nett-verzagten “lasst uns lieb zueinander sein”-Aufrufen erschöpft, sondern die unbedingte Stärke und den Stolz der Frauen betont und damit deutlich kampfeslustiger und kraftvoller wirkt. Hinzu kommt der hymnenhafte Aufbau, der die anfänglich spür- und hörbare Traurigkeit über die noch immer herrschenden patriarchalischen Zustände in produktive, fordernde Wut verwandelt. Tamara Todevska, die bereits dreifache Eurovisionserfahrung als Chorsängerin für den unvergessenen Tose Proeski und ihre für Schwester Tijana Dapčević sowie als Teil des mazedonischen Trios von 2008 vorweisen kann, präsentiert den Song (zumindest in der Studiofassung) stimmlich mit der genau richtigen Mischung aus Verletzlichkeit und Power. Mit einer eindrucksvollen Präsentation und falls es ihr gelingt, im balladentriefenden zweiten Semi in Tel Aviv den Funken dennoch auf die Halle überspringen zu lassen, sollte ihr der Finaleinzug möglich sein. Noch weniger Sorgen muss sich diesbezüglich das polnische Damenquartett Tulia machen, obschon die “Kaczyński-Schwestern”, wie mein Leser Thomas sie lästerlich nannte, gesellschaftspolitisch mutmaßlich für ein entgegengesetztes Leitbild stehen.
Trachten, Blumenkränze im Haar, dicke Zöpfe und ebenso dick aufgetragene Schminke: Tulia erinnern unwillkürlich an die legendären Buttermägde von Cleo & Donatan, allerdings ohne die geringsten erkennbaren Spuren von Sex oder Ironie.
Die Sängerinnen Patrycja Nowicka, Dominika Siepka, Joanna Sinkiewicz und die Namenspatronin Tulia Biczak gründeten ihr im Lande ausgesprochen erfolgreiches Quartett, das sich der traditionellen slawischen Stimmtechnik des vergleichsweise monoton schreienden Weißen Gesangs bedient, erst letztes Jahr. Wie bereits vermutet, nutzen sie ihre im November 2018 veröffentlichte und exakt 3 Minute lange Single ‘Pali się’ (‘Feuer’) als Eurovisionsbeitrag, allerdings ergänzt um einige komplett überflüssige englische Texteinsprengsel. Die trüben den absolut starken Gesamteindruck jedoch nicht, zumal man sie dank der Aussprache auch kaum als solche wahrnimmt. Gespannt bin ich, wie die Damen mit ihren zum Markenzeichen gewordenen “Resting Bitch Faces” (Leserkommentar onlime) beim Publikum ankommen: da könnte ich mir deutliche regionale Unterschiede vorstellen. Die erzkonservativen Jurys hingegen dürften den Soundtrack des gesellschaftlichen Rollbacks begierig aufsaugen und mit freizügigen Punktegaben belohnen. Einen weiteren Gegenentwurf zur nordmazedonischen Frauenbefreiungshymne liefert der aserbaidschanische Vertreter Chingiz Mustafayev mit seinem Trennungsschmerzlied ‘Truth’.
Schnuckeliges Seepferdchen: Chingiz Khan macht unter Wasser eine gute Figur.
In dem rechnet er nämlich mit seiner Verflossenen ab, und seine “Wahrheit” ist eine typisch männliche: die Frau kommt hier nur als verführerische, eiskalte “Killerin” vor, die sich längst schon mit dem Nächsten vergnügt, während unser Protagonist den Schmerz über seine verletzte Eitelkeit und den Verlust im Alkohol zu ertränken sucht. Diesen ranzigen Lyrik-Quark verpackt der attraktive, in Moskau geborene und mit sechs Jahren mit seiner Familie nach Aserbaidschan übergesiedelte Interpret in einen elektrobeat-getriebenen, radiotauglichen Midtemposong, der internationalen Qualitätsstandards an Produktion und Songwriting vollumfänglich genügt. So verfügt ‘Truth’ beispielsweise über eine gute Hook und einen zeitgemäßen Sound mit allenfalls homöopathisch eingesetzten, orientalisch anmutenden Verzierungen; gerade genug, um ihn in seinem Absenderland zu verorten, ohne das westliche Publikum zu verstören. Selbst Chengiz’ hohe Stimme nervt nicht. Ja, es ist voll und ganz berechnend und im Hinblick auf eine gute Platzierung in Tel Aviv komponiert. Aber das mit Finesse.
Was für ein Arsch! Duncan Laurence macht unter Wasser eine noch bessere Figur.
Mustafayevs westlicher Gegenspieler stammt aus den Niederlanden. Dort nominierte der Sender TROS Ende Januar 2019 den 24jährigen Duncan Laurence als Vertreter für Tel Aviv. Sein gestern veröffentlichter Song ‘Arcade’ (‘Spielhalle’) widmet sich ebenfalls dem Trennungsschmerz und zeichnet dabei sogar das Bild der Liebe als einer Sucht, die nichts als Leid und Verlust bringt. Er schafft das jedoch, ohne seine Ex zu denunzieren. Duncan, der im Videoclip lustigerweise genauso wie sein aserbaidschanischer Kollege als männliche Meerjungfrau durch die Tiefen des Ozeans gleitet, dabei allerdings erfreulicherweise noch weniger trägt (nämlich gar nichts), jault gar nochmals höher und ruft unweigerlich ungute Assoziationen an solche Protagonisten des musikalischen Grauens wie Coldplay und Ed Sheeran hervor. Dennoch will es mir nicht gelingen, seine Ballade angemessen zu verabscheuen; ja, ich kann sie mir in nicht all zu hoher Dosierung sogar mit Wohlwollen anhören. Ob das auch noch so sein wird, wenn Laurence bekleidet auf der Bühne in Tel Aviv steht? Die Zeit wird es zeigen!
[Nachtrag]: die letzte Frage hat sich gerade selbst beantwortet. Hier ein Live-Auftritt mit einer Akustik-Version des Titels. Und Klamotten. Und nein, ich kann es immer noch nicht hassen. Muss wohl gut sein.
Kommt sie live an ihr stimmliches Limit? Pænda aus Österreich fordert es heraus.
Zur Gegenprobe können wir die österreichische Vertreterin Pænda heranziehen. Die als Gabriela Horn in der Steiermark geborene und durch den ORF direkt nominierte Elektropop-Elfe präsentiert mit ‘Limits’ laut Senderbeschreibung eine “atmosphärisch aufgeladene Electronic-Pop-Ballade”. Als ob wir im aktuellen Jahrgang nicht ohnehin unter einem massiven Überschuss langsamer Lieder litten! Im dazugehörigen Clip steht eine junge Frau mit braver blauer Frisur und entsetzlicher Leidensmiene drei Minuten regungslos vor der Blue Box und fiept zu einem zähflüssigen, spannungsarmen Ambient-Musikbett mitleiderregend herum. Pændas markante “You-hu-hu-hu“s, mit denen sie praktisch den gesamten Refrain bestreitet, erinnern an den Schweden Robin Stjernberg, der jedoch im Vergleich zu ihr wie ein vor Ausgelassenheit sprühendes Bündel reinsten Sonnenscheins wirkt. Sorry, liebe Nachbarn, so sehr ich Euch ja liebe, aber: dieses Lied deprimiert mich. Die Jurys mögen das womöglich mögen, aber mir geht es extrem auf den Keks. Ebenso übrigens wie der bereits am Mittwoch präsentierte griechische Beitrag ‘Better Love’ von Katerine Duska.
Ein Traum in rosé: die gebürtige Kanadierin Katerine Duska mit tüllenem Kopfschmuck.
Der erfuhr in den Fan-Foren zwar durchaus Zuspruch, lässt mich jedoch offen gestanden ratlos mit der Schulter zuckend zurück. Duska winselt genauso weinerlich herum wie die alpenländische Kollegin, nur dass bei ihr noch ein zehennägelaufrollendes Schafstimbre hinzukommt, das an den schlimmsten Stellen an die unsägliche Anna Bergendahl erinnert. Zwar trumpft ihr Song musikalisch deutlich stärker auf und verfügt zumindest über einen messbaren Puls. Dennoch bietet er nichts, an dem sich mein Ohr festmachen könnte. Wie eine Portion Zuckerwatte im Frühlingssturm schwebt er vorbei und hinterlässt nichts als Leere. Dann schon lieber die heute verkündete irische Vertreterin Sarah McTernan mit ihrem harmlosen, fröhlichen Popliedchen ‘22’. Sarahs von einem niederländischen Team geschriebener Wettbewerbsbeitrag lässt so ein bisschen den plinkernden, uptemporären Gitarrenpopsound wieder aufleben, wie ihn in den End-Achtzigern Bands wie Fairground Attraction oder Simply Red popularisierten. Macht moderat gute Laune und eignet sich perfekt fürs Frühstücksradio und als Fülltitel für die Ränge acht bis zehn in der Semi-Wertung sowie fürs obere hintere Drittel im Finale des Song Contests. Und damit beenden wir die Resteschau.
Nein, die ‘22’ steht nicht für Sarahs bevorzugte Penisgröße, sondern für die Hausnummer ihres Liebsten. Beziehungsweise für die Anzahl an Jahren, die der letzte irische Eurovisionssieg zurückliegt.
NMZD: Aus der Restasche von “Rise Like A Phoenix” zusammengekratzt.
Netta hatte ihr den unverkrampfteren Ansatz zum Thema voraus, hier wirkt es wie eine bestellte Lobeshymne zum Geburtstag der Patin von Skopje. Kalkulierte Worthülsen & klischeehafte Symbolik.
POL: Könnte klanglich auch der Soundtrack zu einer japanischen Animeserie sein. Ist in Wahrheit aber ein Backlash gegen Peta-Aktivisten (Pelzmäntel, Lederjacken, Schafswollkragen im Video). Die gesungenen Domina-Befehlstöne werden konservative europäischen Televoter sicher an die Telefone peitschen.
Ähnlich wie Polen gieren ja auch Albanien und Georgien nach den Votes ihrer exterritorialen Landsmänner und ‑frauen mit *ähem* landestypischer Symbolik. Kann dem nichts abgewinnen, für mich verzichtbar.
“die Frau kommt hier nur als verführerische, eiskalte “Killerin””
Dann war Chingiz also vorher mit MARUV zusammen. Bang!
Nordmazedonien: Es gibt hymnenhafte Balladen, die mir gefallen, und es gibt welche, die mich kaltlassen. Kann man nicht immer erklären, warum dies so oder so ist. Dieser Beitrag gehört in die zweite Kategorie.
Polen: Keine Ahnung, ob’s der passende Soundtrack aktuell zur populistischen Politik und der immer muffiger werdenden Gesellschaft im Land ist – ich steh irgendwie drauf. Sogar auf die sehr speziellen Stimmen.
Aserbaidschan: Nach den Fails der letzten Jahre mit dem Höhepunkt, sich 2018 sensationell nicht fürs Finale qualifiziert zu haben, könnte es heuer wieder mal was Überzeugendes werden. Aber live is halt live, weshalb wir lieber abwarten.
Niederlande: Mir gefällt die Stimmung hier sehr gut. Ist aber alles andere als leicht, das so überzeugend auf die Bühne zu bringen. Gelingt’s, dann Respekt. Scheitert’s, ist es ein Grund für Häme.
Österreich: Mit Ambitionen gestartet, aber die Latte glasklar gerissen. Verzichtbar.
Griechenland: Tausendmal gehört, tausendmal hat’s nicht gestört – gilt für das Lied. Die Stimme allerdings hat was Superfieses, die zieht einem die Plomben aus den Zähnen!
Irland: Wenn’s Bügeln damit leichter fällt, hat der Beitrag durchaus seine Berechtigung.
da dachte ich, ich hätte mit island, zypern, italien, belgien, lettland und slowenien schon genügend herzensnummern zusammen (ok, der begriff mag für hatari vielleicht unpassend scheinen… – sagen wir lieber: lieblingsbeiträge), da platzen nun auch noch dänemark, azerbaidschan und die schweiz rein und bringen mich vollends durcheinander, wem ich die krone zuerkennen soll. zum glück (?) habe ich mich ganz aktuell in den niederländischen song verliebt (und dann schaut der auch noch so in die kamera…) – hach, mir doch egal, wer gewinnt 🙂
Die österreichische Suizidballade gefällt mir zusammen mit der slowenischen richtig gut, ich bin ganz zuversichtlich dass es fürs Finale reicht, auch wenn Paenda in der Bubble schlecht wegkommt. ++ (und jetzt Patriotenbrille wieder runter)
Der polnische Beitrag ist ja jetzt schon legendär, und das Englisch am Start stört nicht, das klingt sowieso gleich wie der Rest.++
Niederlande und Aserbaidschan schwimmen so im Nirgendwo +-
Nordmazedonien gerne auch im Finale +
Und die 22 steht vielleicht auch für die irische Punktzahl im Semi