San-Remo-Fes­ti­val 1969: Baby it’s cold outside

Viel Feind – viel Ehr’: die her­aus­ra­gen­de Popu­la­ri­tät des als ESC-Vor­ent­scheid genutz­ten ligu­ri­schen Lie­der­fes­ti­vals und sei­ne emi­nen­te kul­tu­rel­le Bedeu­tung mach­ten es zu einer idea­len Ziel­schei­be der auch in Ita­li­en Ende der Sech­zi­ger­jah­re gegen die bestehen­den gesell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­se auf­be­geh­ren­den Stu­den­ten­be­we­gung. Ein vom Sati­ri­ker und Thea­ter­ma­cher Dario Fo ver­an­stal­te­tes und von der Kom­mu­nis­ti­schen Par­tei unter­stütz­tes Gegen­fes­ti­val, mit dem man gegen den als “bür­ger­lich” gebrand­mark­ten Song­wett­streit pro­tes­tie­ren und an das Bewusst­sein der Arbei­ter­schaft appel­lie­ren woll­te, sorg­te für Unru­he bei der Rai, die aus Furcht vor Stö­rern die bei­den Semis und das Fina­le der Show bereits am jewei­li­gen Nach­mit­tag als Play­back auf­zeich­nen ließ, um für alle Fäl­le gewapp­net zu sein. Vor Ort fuhr man die Prä­senz an Uni­form­trä­gern aus Orts- und Lan­des­po­li­zei sowie Armee so weit hoch, dass die­ser Jahr­gang den Bei­na­men “Fes­ti­val mit Schutz­helm” erhielt. Des­sen unge­ach­tet ging die drei­tä­gi­ge Ver­an­stal­tung, die mit größ­ten­teils eta­blier­ten Namen auf­war­te­te, ohne jeden Zwi­schen­fall über die Bühne.

Viel Song, viel mehr: die Play­list mit allen Final­ti­teln in Auf­tritts­rei­hen­fol­ge sowie den aus­ge­schie­de­nen Titeln.

Für einen düs­te­ren Unter­ton sorg­te der Sui­zid­ver­such der viel­fa­chen San-Remo-Teil­neh­me­rin Anna Iden­ti­ci kurz vor dem Fes­ti­val. Die jun­ge Film­schau­spie­le­rin und Sän­ge­rin Rosan­na Fratel­lo über­nahm kurz­fris­tig ihren Titel ‘Il Tre­no’. Erneut gaben sich etli­che inter­na­tio­na­le Super­stars im nord­ita­lie­ni­schen Küs­ten­städt­chen die Ehre, so die ehe­ma­li­ge Euro­vi­si­ons­sie­ge­rin France Gall oder die Bri­tin Mary Hop­kin, die im Jahr dar­auf für das Ver­ei­nig­te König­reich an den Start gehen soll­te und hier schon mal ers­te Grand-Prix-Luft schnup­per­te. Mit dem nur kurz­zei­tig erfolg­rei­chen Bren­ton Wood, Wil­son Pickett und der Motown-Legen­de Stevie Won­der ver­sam­mel­ten sich gleich drei US-ame­ri­ka­ni­sche Soul­grö­ßen als Gast­sän­ger im ligu­ri­schen Kur­ort. Ins Fina­le schaff­te es jedoch nur der optisch ein wenig an den jun­gen Eddie Mur­phy erin­nern­de, ab den Acht­zi­ger­jah­ren infol­ge aus­blei­ben­der Erfol­ge bedau­er­li­cher­wei­se der Trunk­sucht ver­fal­len­de und öfters mit dem Gesetz in Kon­flikt gera­ten­de Pickett, der nach einer mit Mühen gemeis­ter­ten Auf­takt­zei­le in Ita­lie­nisch für den Rest des Songs in Eng­li­sche wech­sel­te und zudem mit sehr unter­halt­sa­men Tanz­ein­la­gen zu gefal­len wusste.

Es dau­ert einen gan­zen Moment, bis es end­lich los­geht, aber dann besticht Herr Pickett mit außer­ge­wöhn­li­chen Tanz- und Gesangskünsten.

Der Kom­po­nist sei­nes Bei­trags ‘Un’Av­ven­tura’ war die öffent­lich­keits­scheue hei­mi­sche Musik­le­gen­de Lucio Bat­tis­ti, der damit als Erst­be­set­zung sei­nen ers­ten und ein­zi­gen San-Remo-Auf­tritt hin­leg­te und sich anschlie­ßend unqua­li­fi­zier­te Pres­se­kom­men­ta­re über sei­ne wil­de Scham­haar­fri­sur (“Struw­wel­pe­ter”) und sei­ne krat­zi­ge Stim­me gefal­len las­sen muss­te. Bereits in den bei­den Vor­jah­ren hat­te Bat­tis­ti, der nur 55 Jah­re alt wer­den soll­te und nicht zuletzt auf­grund sei­ner Wand­lungs­fä­hig­keit und Expe­ri­men­tier­freu­de als einer der ein­fluss­reichs­ten ita­lie­ni­schen Musi­ker galt, jeweils einen San-Remo-Bei­trag geschrie­ben, aber nicht selbst gesun­gen. Alle 14 Final­ti­tel plat­zier­ten sich in den hei­mi­schen Sin­gle­charts, wobei sich das ein­gangs erwähn­te ‘Il Tre­no’ mit Rang 37 noch als am wenigs­ten erfolg­reich erwei­sen soll­te. Bis in die Top 30 schaff­ten es unter ande­rem der wat­te­wei­che Fahr­stuhl­mu­sik-Schla­ger ‘Cosa hai mes­so nel Caf­fe’ (‘Was hast du in den Kaf­fee getan?’: offen­sicht­lich nichts Auf­put­schen­des!) des Can­t­au­to­ren Ric­car­do Del Tur­co und die gei­gen­ge­schwän­ger­te, ele­gan­te Lie­bes­schnul­ze ‘Quan­do l’Amore diven­ta Poe­sia’ der San-Remo-Legen­de Ori­et­ta Ber­ti (bür­ger­lich: Galimberti).

Mehr als ein hal­bes Jahr­hun­dert spä­ter noch immer im Geschäft und immer noch frisch wie der jun­ge Mor­gen: Ori­et­ta Berti.

Die absol­vier­te damit bereits ihre vier­te Teil­nah­me in Fol­ge, zu denen sich im Lau­fe der nächs­ten sechs Jahr­zehn­te noch sie­ben wei­te­re hin­zu­ge­sel­len soll­ten, zuletzt im Jah­re 2021. Eine Top-Ten-Plat­zie­rung gab es für die bereits im Herbst ihrer Schla­ger­kar­rie­re ste­hen­de Rita Pavo­ne, die mit Erfolgs­ti­teln wie ‘Arre­vi­der­ci Hans’ (1968) oder dem früh­fe­mi­nis­ti­schen, spä­ter von Nina Hagen geco­ver­ten und lyrisch kon­ge­ni­al ergänz­ten ‘Wenn ich ein Jun­ge wär’ (1963) auch in Deutsch­land zu den bekann­ten Namen gehör­te. In den Sieb­zi­gern zog sich die mit dem zwan­zig Jah­re älte­ren Ted­dy Reno ver­hei­ra­te­te Rita aus dem Geschäft zurück, leg­te beim San-Remo-Fes­ti­val 2020 mit dem fan­tas­ti­schen ‘Nien­te (Resi­li­en­za 74)’ jedoch ein ful­mi­nan­tes Alters­come­back hin. In gleich bei­den Ver­sio­nen char­te­te der Bei­trag ‘La Piog­gia’, der mit der prä­gnan­ten Hook­li­ne aus der von Hen­ry Man­ci­ni kom­po­nier­ten Titel­me­lo­die zur ame­ri­ka­ni­schen Kri­mi­se­rie Peter Gunn (1958–1961) eröff­ne­te, im Refrain in einen Humpt­ata-Schun­kel­schla­ger umkipp­te und dazwi­schen von einer gei­gen­se­li­gen Brü­cke not­dürf­tig zusam­men­ge­hal­ten wur­de. Ver­mut­lich lag es an der char­man­ten Aus­strah­lung sei­ner bei­den Inter­pre­tin­nen und vor­ma­li­gen Grand-Prix-Gewin­ne­rin­nen France Gall (#15) und Giglio­la Cin­quet­ti (#2), dass das plat­ten­kau­fen­de Publi­kum die­sen kru­den Mix den­noch goutierte.

Ihr kann man ein­fach nichts Übel neh­men, auch einen aus drei unpas­sen­den Ein­zel­tei­len zusam­men­ge­den­gel­ten Schla­ger: die stets anmu­ti­ge Cinquetti.

Einen Num­mer-Eins-Hit konn­te die damals erst sech­zehn­jäh­ri­ge Nada Mal­a­ni­ma mit ihrem San-Remo-Debüt ‘Ma che fred­do fa’ (‘Wie kalt es ist’) erzie­len, ihrem bis heu­te erfolg­reichs­ten Titel, der anschlie­ßend in zahl­rei­chen lan­des­sprach­li­chen Cover­ver­sio­nen von ver­schie­dens­ten Eurovisionskolleg:innen wie Dali­da, Dana, José Guar­dio­la und Đorđe Mar­ja­no­vić einen Sie­ges­zug durchs euro­päi­sche Aus­land antrat. Auch hei­mi­sche Künstler:innen nah­men den flot­ten Beat­schla­ger in ihr Reper­toire auf, dar­un­ter die gro­ße Mina. Wie im Vor­feld bereits erwar­tet, räum­te der ursprüng­lich für Gian­ni Moran­di geschrie­be­ne Song ‘Zin­ga­re’ (‘Zigeu­ne­rin’) sowohl bei den San-Remo-Jurys als auch in der Ver­kaufs­hit­pa­ra­de ab. Moran­di nahm die kli­schee­trie­fen­de Schnul­ze, in der sich der Prot­ago­nist nach einer zer­bro­che­nen Lie­be von einer Wahr­sa­ge­rin in der vagen Hoff­nung auf Trost die Hand lesen lässt, zwar selbst auf, sag­te sei­ne Wett­be­werbs­teil­nah­me aber kurz­fris­tig ab. Das wie­der­hol­te sich im dar­auf­fol­gen­den Jahr, wo er als Zweit­in­ter­pret für das von Nico­la di Bari kom­po­nier­te ‘La Pri­ma cosa Bel­la’ ein­ge­plant war, aber eben­falls stor­nier­te. Zum ESC durf­te er 1970 dennoch.

Da bewegt sich der ita­lie­ni­sche Elvis optisch bereits ein biss­chen in Rich­tung Libe­r­ace: Bob­by Solo im Schla­ger­film zu ‘Zin­ga­ra’.

Zurück in die­sem Jahr tra­ten an sei­ne Stel­le der noch vom ESC 1965 in Nea­pel bekann­te Rober­to Sat­ti ali­as Bob­by Solo, der den Erfolg rasch mit einem eilig her­un­ter­ge­kur­bel­ten Schla­ger­film glei­chen Namens sowie einer von ihm offen­hör­bar pho­ne­tisch ein­ge­sun­ge­nen deut­schen Fas­sung (‘Zigeu­ner­mäd­chen’ oder, wie es bei ihm klang, “Zieh­geu­na-Mah­dschen”) zusätz­lich ver­sil­ber­te, sowie Iva Zanic­chi, die damit den zwei­ten von ins­ge­samt drei San-Remo-Sie­gen ein­tü­ten konn­te und von­sei­ten der Rai anschlie­ßend zum Euro­vi­si­on Song Con­test dele­giert wur­de. Dort trat sie aller­dings nicht mit dem auf­grund sei­nes Titels aus heu­ti­ger Sicht etwas pro­ble­ma­ti­schen Lied an, son­dern mit der eigens für den euro­päi­schen Wett­be­werb neu geschrie­be­nen, etwas lei­ern­den Bal­la­de ‘Due gros­se Lacrime bian­che’, mit wel­cher sie in Madrid jedoch abschmie­ren soll­te. Nach einer wech­sel­haf­ten Kar­rie­re als Sän­ge­rin, Schau­spie­le­rin und TV-Mode­ra­to­rin ging sie spä­ter in die Poli­tik und saß von 2008 bis 2014 für die rech­te For­za Ita­lia bzw. deren Nach­fol­ge­or­ga­ni­sa­ti­on Popo­lo de la Liber­ta im Europaparlament.

Zwei gro­ße wei­ße Trä­nen’: besingt sie da die Eja­ku­la­ti­on ihres grei­sen Par­tei­chefs Sil­vio Berlusconi?

Vor­ent­scheid IT 1969

Fes­ti­val del­la Can­zo­ne ita­lia­na di San­re­mo. Sams­tag, 1. Febru­ar 1969, aus dem Casinò Muni­ci­pa­le in San Remo. 28 Teilnehmer:innen. Mode­ra­ti­on: Nuc­cio Cos­ta und Gabri­el­la Farinon.
#Inter­pre­tenInter­pre­tenSong­ti­telJuryPlatzCharts
01Litt­le TonyMario Zeli­not­tiBada Bam­bi­na0541203 | –
02Bob­by SoloIva Zanic­chiZin­ga­ra2370101 | 05
03Don BackyMil­vaUn Sor­ri­so1780307 | –
04Ori­et­ta BertiMas­si­mo RanieriQuan­do l’A­mo­re diven­ta Poesia0631023 | –
05Nada Mal­a­ni­maThe RokesMa che fred­do fa1410501 | –
06Giglio­la CinquettiFrance GallLa Piog­gia1160602 | 13
07Cate­ri­na CaselliJohn­ny DorelliIl Gio­co dell’Amore0860815 | –
08Rita Pavo­neDik DikZuc­che­ro0531311 | –
09Faus­to LealiTony del MonacoUn’O­ra fa1540406 | –
10Lucio Bat­tis­tiWil­son PickettUn’Av­ven­tura0690915 | –
11Ric­car­do del TurcoAntoineCosa hai mes­so nel caffè?0291429 | 12
12Ser­gio EndrigoMary Hop­kinLon­ta­no dag­li Occhi2280218 | 16
13Car­men VillaniAles­san­dra CasacciaPic­co­la piccola0591118 | –
14The Show­menMalTu sei bel­la come sei09307– | 04

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