Viel Feind – viel Ehr’: die herausragende Popularität des als ESC-Vorentscheid genutzten ligurischen Liederfestivals und seine eminente kulturelle Bedeutung machten es zu einer idealen Zielscheibe der auch in Italien Ende der Sechzigerjahre gegen die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse aufbegehrenden Studentenbewegung. Ein vom Satiriker und Theatermacher Dario Fo veranstaltetes und von der Kommunistischen Partei unterstütztes Gegenfestival, mit dem man gegen den als “bürgerlich” gebrandmarkten Songwettstreit protestieren und an das Bewusstsein der Arbeiterschaft appellieren wollte, sorgte für Unruhe bei der Rai, die aus Furcht vor Störern die beiden Semis und das Finale der Show bereits am jeweiligen Nachmittag als Playback aufzeichnen ließ, um für alle Fälle gewappnet zu sein. Vor Ort fuhr man die Präsenz an Uniformträgern aus Orts- und Landespolizei sowie Armee so weit hoch, dass dieser Jahrgang den Beinamen “Festival mit Schutzhelm” erhielt. Dessen ungeachtet ging die dreitägige Veranstaltung, die mit größtenteils etablierten Namen aufwartete, ohne jeden Zwischenfall über die Bühne.
Viel Song, viel mehr: die Playlist mit allen Finaltiteln in Auftrittsreihenfolge sowie den ausgeschiedenen Titeln.
Für einen düsteren Unterton sorgte der Suizidversuch der vielfachen San-Remo-Teilnehmerin Anna Identici kurz vor dem Festival. Die junge Filmschauspielerin und Sängerin Rosanna Fratello übernahm kurzfristig ihren Titel ‘Il Treno’. Erneut gaben sich etliche internationale Superstars im norditalienischen Küstenstädtchen die Ehre, so die ehemalige Eurovisionssiegerin France Gall oder die Britin Mary Hopkin, die im Jahr darauf für das Vereinigte Königreich an den Start gehen sollte und hier schon mal erste Grand-Prix-Luft schnupperte. Mit dem nur kurzzeitig erfolgreichen Brenton Wood, Wilson Pickett und der Motown-Legende Stevie Wonder versammelten sich gleich drei US-amerikanische Soulgrößen als Gastsänger im ligurischen Kurort. Ins Finale schaffte es jedoch nur der optisch ein wenig an den jungen Eddie Murphy erinnernde, ab den Achtzigerjahren infolge ausbleibender Erfolge bedauerlicherweise der Trunksucht verfallende und öfters mit dem Gesetz in Konflikt geratende Pickett, der nach einer mit Mühen gemeisterten Auftaktzeile in Italienisch für den Rest des Songs in Englische wechselte und zudem mit sehr unterhaltsamen Tanzeinlagen zu gefallen wusste.
Es dauert einen ganzen Moment, bis es endlich losgeht, aber dann besticht Herr Pickett mit außergewöhnlichen Tanz- und Gesangskünsten.
Der Komponist seines Beitrags ‘Un’Avventura’ war die öffentlichkeitsscheue heimische Musiklegende Lucio Battisti, der damit als Erstbesetzung seinen ersten und einzigen San-Remo-Auftritt hinlegte und sich anschließend unqualifizierte Pressekommentare über seine wilde Schamhaarfrisur (“Struwwelpeter”) und seine kratzige Stimme gefallen lassen musste. Bereits in den beiden Vorjahren hatte Battisti, der nur 55 Jahre alt werden sollte und nicht zuletzt aufgrund seiner Wandlungsfähigkeit und Experimentierfreude als einer der einflussreichsten italienischen Musiker galt, jeweils einen San-Remo-Beitrag geschrieben, aber nicht selbst gesungen. Alle 14 Finaltitel platzierten sich in den heimischen Singlecharts, wobei sich das eingangs erwähnte ‘Il Treno’ mit Rang 37 noch als am wenigsten erfolgreich erweisen sollte. Bis in die Top 30 schafften es unter anderem der watteweiche Fahrstuhlmusik-Schlager ‘Cosa hai messo nel Caffe’ (‘Was hast du in den Kaffee getan?’: offensichtlich nichts Aufputschendes!) des Cantautoren Riccardo Del Turco und die geigengeschwängerte, elegante Liebesschnulze ‘Quando l’Amore diventa Poesia’ der San-Remo-Legende Orietta Berti (bürgerlich: Galimberti).
Mehr als ein halbes Jahrhundert später noch immer im Geschäft und immer noch frisch wie der junge Morgen: Orietta Berti.
Die absolvierte damit bereits ihre vierte Teilnahme in Folge, zu denen sich im Laufe der nächsten sechs Jahrzehnte noch sieben weitere hinzugesellen sollten, zuletzt im Jahre 2021. Eine Top-Ten-Platzierung gab es für die bereits im Herbst ihrer Schlagerkarriere stehende Rita Pavone, die mit Erfolgstiteln wie ‘Arreviderci Hans’ (1968) oder dem frühfeministischen, später von Nina Hagen gecoverten und lyrisch kongenial ergänzten ‘Wenn ich ein Junge wär’ (1963) auch in Deutschland zu den bekannten Namen gehörte. In den Siebzigern zog sich die mit dem zwanzig Jahre älteren Teddy Reno verheiratete Rita aus dem Geschäft zurück, legte beim San-Remo-Festival 2020 mit dem fantastischen ‘Niente (Resilienza 74)’ jedoch ein fulminantes Alterscomeback hin. In gleich beiden Versionen chartete der Beitrag ‘La Pioggia’, der mit der prägnanten Hookline aus der von Henry Mancini komponierten Titelmelodie zur amerikanischen Krimiserie Peter Gunn (1958–1961) eröffnete, im Refrain in einen Humptata-Schunkelschlager umkippte und dazwischen von einer geigenseligen Brücke notdürftig zusammengehalten wurde. Vermutlich lag es an der charmanten Ausstrahlung seiner beiden Interpretinnen und vormaligen Grand-Prix-Gewinnerinnen France Gall (#15) und Gigliola Cinquetti (#2), dass das plattenkaufende Publikum diesen kruden Mix dennoch goutierte.
Ihr kann man einfach nichts Übel nehmen, auch einen aus drei unpassenden Einzelteilen zusammengedengelten Schlager: die stets anmutige Cinquetti.
Einen Nummer-Eins-Hit konnte die damals erst sechzehnjährige Nada Malanima mit ihrem San-Remo-Debüt ‘Ma che freddo fa’ (‘Wie kalt es ist’) erzielen, ihrem bis heute erfolgreichsten Titel, der anschließend in zahlreichen landessprachlichen Coverversionen von verschiedensten Eurovisionskolleg:innen wie Dalida, Dana, José Guardiola und Đorđe Marjanović einen Siegeszug durchs europäische Ausland antrat. Auch heimische Künstler:innen nahmen den flotten Beatschlager in ihr Repertoire auf, darunter die große Mina. Wie im Vorfeld bereits erwartet, räumte der ursprünglich für Gianni Morandi geschriebene Song ‘Zingare’ (‘Zigeunerin’) sowohl bei den San-Remo-Jurys als auch in der Verkaufshitparade ab. Morandi nahm die klischeetriefende Schnulze, in der sich der Protagonist nach einer zerbrochenen Liebe von einer Wahrsagerin in der vagen Hoffnung auf Trost die Hand lesen lässt, zwar selbst auf, sagte seine Wettbewerbsteilnahme aber kurzfristig ab. Das wiederholte sich im darauffolgenden Jahr, wo er als Zweitinterpret für das von Nicola di Bari komponierte ‘La Prima cosa Bella’ eingeplant war, aber ebenfalls stornierte. Zum ESC durfte er 1970 dennoch.
https://youtu.be/X‑UFZbcxhXs
Da bewegt sich der italienische Elvis optisch bereits ein bisschen in Richtung Liberace: Bobby Solo im Schlagerfilm zu ‘Zingara’.
Zurück in diesem Jahr traten an seine Stelle der noch vom ESC 1965 in Neapel bekannte Roberto Satti alias Bobby Solo, der den Erfolg rasch mit einem eilig heruntergekurbelten Schlagerfilm gleichen Namens sowie einer von ihm offenhörbar phonetisch eingesungenen deutschen Fassung (‘Zigeunermädchen’ oder, wie es bei ihm klang, “Ziehgeuna-Mahdschen”) zusätzlich versilberte, sowie Iva Zanicchi, die damit den zweiten von insgesamt drei San-Remo-Siegen eintüten konnte und vonseiten der Rai anschließend zum Eurovision Song Contest delegiert wurde. Dort trat sie allerdings nicht mit dem aufgrund seines Titels aus heutiger Sicht etwas problematischen Lied an, sondern mit der eigens für den europäischen Wettbewerb neu geschriebenen, etwas leiernden Ballade ‘Due grosse Lacrime bianche’, mit welcher sie in Madrid jedoch abschmieren sollte. Nach einer wechselhaften Karriere als Sängerin, Schauspielerin und TV-Moderatorin ging sie später in die Politik und saß von 2008 bis 2014 für die rechte Forza Italia bzw. deren Nachfolgeorganisation Popolo de la Liberta im Europaparlament.
‘Zwei große weiße Tränen’: besingt sie da die Ejakulation ihres greisen Parteichefs Silvio Berlusconi?
Vorentscheid IT 1969
Festival della Canzone italiana di Sanremo. Samstag, 1. Februar 1969, aus dem Casinò Municipale in San Remo. 28 Teilnehmer:innen. Moderation: Nuccio Costa und Gabriella Farinon.# | Interpreten | Interpreten | Songtitel | Jury | Platz | Charts |
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01 | Little Tony | Mario Zelinotti | Bada Bambina | 054 | 12 | 03 | – |
02 | Bobby Solo | Iva Zanicchi | Zingara | 237 | 01 | 01 | 05 |
03 | Don Backy | Milva | Un Sorriso | 178 | 03 | 07 | – |
04 | Orietta Berti | Massimo Ranieri | Quando l’Amore diventa Poesia | 063 | 10 | 23 | – |
05 | Nada Malanima | The Rokes | Ma che freddo fa | 141 | 05 | 01 | – |
06 | Gigliola Cinquetti | France Gall | La Pioggia | 116 | 06 | 02 | 13 |
07 | Caterina Caselli | Johnny Dorelli | Il Gioco dell’Amore | 086 | 08 | 15 | – |
08 | Rita Pavone | Dik Dik | Zucchero | 053 | 13 | 11 | – |
09 | Fausto Leali | Tony del Monaco | Un’Ora fa | 154 | 04 | 06 | – |
10 | Lucio Battisti | Wilson Pickett | Un’Avventura | 069 | 09 | 15 | – |
11 | Riccardo del Turco | Antoine | Cosa hai messo nel caffè? | 029 | 14 | 29 | 12 |
12 | Sergio Endrigo | Mary Hopkin | Lontano dagli Occhi | 228 | 02 | 18 | 16 |
13 | Carmen Villani | Alessandra Casaccia | Piccola piccola | 059 | 11 | 18 | – |
14 | The Showmen | Mal | Tu sei bella come sei | 093 | 07 | – | 04 |
Letzte Aktualisierung: 13.06.2021