Sie sind die Eiterpickel am Gesäß des Eurovision Song Contests: Grand-Prix-Komponisten, die sich einen Startplatz für ihre Lieder beim Wettbewerb kaufen. Über Ralph Siegel gibt es das (natürlich unbewiesene) Gerücht, dass er immer wieder Valentina Monetta für San Marino ins Rennen schicken durfte, weil er die gesamten Auftritte aus eigener Tasche finanziert haben soll. Und auch seinem russischen Pendant Phillip Kirkorov unterstellt man gelegentlich ein solches Vorgehen. Er bediene sich dabei gerne des bitterarmen Moldawiens, denn nirgends ist das Televoting mit so wenig Aufwand zu manipulieren. Und den dortigen Juror:innen sagen böse Zungen ebenfalls eine gewisse Offenheit für finanzielle Argumente nach. 2018 platzierte er so das im russlandfreundlichen Transnistrien beheimatete Trio DoReDos und verschaffte sich ‘My lucky Day’, was angesichts einer Bronzemedaille im Semi und eines zehnten Platzes im ESC-Finale als Glücksgriff für den kleinen Bruder Rumäniens gelten darf. In diesem Jahr nun legte er mit Natalia Gordienco nach, die 2006 gemeinsam mit dem Ex-O-Zone-Mitglied Arsenium das Land schon einmal vertrat. Und bringt damit maximales Unglück über das restliche Europa, das nun in einem Wettbewerb, der bereits vor depressivem, beigem Midtemposeich förmlich birst, einen weiteren Beitrag (‘Prison’) genau dieser Geschmacksrichtung ertragen muss. Es ist zum Verzweifeln.
Um den Ansatz nachzufärben, reichte das Geld dann wohl nicht mehr: Natalia Gordienco.
Eine besondere Tragik kommt diesem Umstand dadurch zuteil, dass es sich bei der diesjährigen O Melodi pentru Europa (OMpE) um die mit weitem Abstand beste (!) Eurovisionsvorscheidung nicht nur in der vergleichsweise kurzen Geschichte Moldawiens beim Songcontest handelte, sondern auch die mit weitem Abstand beste der diesjährigen Saison. Dabei stand lange Zeit in den Sternen, ob es überhaupt eine OMpE geben wird oder ob der Sender TRM nicht kostensparend intern auswählt, wie das immer mehr Länder machen. Doch dann sichtete man in Chișinău die 34 eingereichten Beiträge und fand 20 von ihnen dermaßen gut, dass man doch einen öffentlichen Vorentscheid auf die Beine stellte. Und diese, am gestrigen Schalttag über die Antenne gegangene Show zeigte sich prall gefüllt mit genau jenen Songs, nach denen eingefleischte Grand-Prix-Fans sich förmlich verzehren: ein schamlos billiger, ansteckend fröhlicher Uptempoknaller folgte auf den nächsten. Gut zwei Drittel (!) des Aufgebotes fielen in diese segensreiche Kategorie, also exakt die Quote, wie ich sie mir auch beim großen Song Contest seit jeher wünsche. Tatsächlich würde ich es ganz ernsthaft begrüßen, wenn wir sämtliche aktuell noch nicht abgeschlossenen nationalen Auswahlverfahren sofort stoppen und alle noch offenen Slots für Rotterdam mit den übrigen Lieder dieser OMpE füllten.
Vorschlag an Pashas Begleittänzer: ihr Beiden haltet ihr kurz fest und ich gehe ratzfatz mit der Schermaschine durch diese schlimme, schlimme Wolle-Petry-Gedächtnisfrisur. Es ist zum Segen der gesamten Menschheit. Deal?
Beispielsweise mit Pasha Parfenys ‘My Wine’. Der moldawische Repräsentant von 2012 wartete mit einer leicht verwässerten, aber immer noch mitreißenden Neubearbeitung seines damaligen Beitrags ‘Lăutar’ auf und tanzte dazu mit zwei kernigen Begleitburschen und drei trachtentragenden Chorsängerinnen strikt geschlechtergetrennte Ringelreihen. Als Zweitplatzierter des Vorentscheids entpuppte er sich als der hauptsächliche Leidtragende: als etablierter Komponist und Sänger mit etlichen Hits verfügte Pasha zwar über die nötigen Mittel, sich als einer von lediglich zwei Teilnehmer:innen des Abends mehr als tausend Anrufe beim Televoting zu sichern, während die übrigen Kombattant:innen im niedrigen zwei- bis dreistelligen Bereich herumkrebsten. Doch gegen die geballte Finanzkraft des reichen Russen erwies auch er sich als machtlos. Ganze sieben (!) Anrufe versammelte die ehemalige Vertreterin des Landes von 2008, Geta Burlacu, auf sich. Was sich allerdings besonders lustig ausnimmt im Angesicht der Tatsache, dass die Sängerin am Samstagnachmittag aus persönlichen Gründen ihre Teilnahme zurückzog. Was für Teleradio Moldova so kurzfristig kam, dass der Sender ihre Startnummer nicht mehr neu vergeben konnte und sie auch offensichtlich nicht beim Televoting sperrte. Bizarrerweise wertete TRM die Anrufe sogar und wies der nicht zum Wettsingen angetretenen Sängerin im offiziellen Ranking den 16. (!) von 20 Plätzen zu.
In Moldawien verwendet man Sofas nicht zum Sitzen: Valentin & Irina.
Als größter Verlust muss jedoch die musikalische Tourismuswerbung ‘Moldovița’ aus der Feder von Valentin Uzun gelten, die der optisch ein wenig an einen Hochzeitssänger im Drei-Euro-Anzug von kik gemahnende Singer-Songwriter gemeinsam mit Irina Kovalsky und vier trachtentragenden Begleitsängerinnen vortrug und ‑tanzte. Gespickt mit etlichen “Hoppa“s, Jauchzern und Grüßen in der jeweiligen Landessprache an die anderen Eurovisionsnationen, erweckte die aufgetriedelte Balkanika-Nummer in mir tatsächlich den brennenden Wunsch, der spirituellen Heimat des heißgeliebten Uptempo-Trashs einen Besuch abzustatten, wenn nicht gar gleich dorthin überzusiedeln: bis dahin läuft ‘Moldovița’ im Hause aufrechtgehn.de jedenfalls in Dauerschleife! Einen Hauch von orientalischem Cabaret brachte der putzige Dima Jelezoglo in die OMpE. Der kleinwüchsige russischstämmige Jüngling wiegte sich zu den verschleppten Beats seines discotastischen Aufrufs gegen das Sportficken (‘Do it slow’) lasziv in den Hüften und ließ gleichwohl mimisch wie in seinen Gesten nicht den geringsten Zweifel daran, dass seine goldflügelschlagenden Begleittänzerinnen sich in seiner Gegenwart stets sicher vor sexuellen Begehrlichkeiten fühlen können. Und das hat in Zeiten von Me too doch etwas Beruhigendes.
So camp wie eine Reihe von Zelten: Dima Jelezoglu.
Zwei Acts, die sehr deutlich aus der Reihe des Uptempo-Trashs ausscherten, verdienen hier ebenfalls Erwähnung: da war zum einen die ausgesprochen jungfräulich wirkende Maria Ciolac, die nur in Begleitung einer bontempispielenden Dame mit ihrer selbstgeschriebenen Ballade ‘Our Home’ antrat und für ihr offensichtlich aufgeregtes, säuerliches Gefiepse von der Jury noch nicht mal einen einzigen schäbigen Mitleidspunkt erhielt, zu Recht übrigens. Im Gegensatz zum Duo Petronela Donciu & Andreea Portărescu und dessen musikalisch gefällige, wenngleich schon tausend Mal gehörte Powerballade ‘We will be Legends’. Zu Legenden beförderte sie ihr Auftritt auch, wenngleich auf etwas andere Weise als gedacht. Ob es nun an einem unfähigen Tontechniker; wie im Camera-verde-Interview behauptet, erkältungsbedingter Unpässlichkeit oder gar generellem stimmlichem Unvermögen lag: während der ersten Strophe waren die beiden in Sachen Kleidung und Frisur massiv aufgedonnerten Damen kaum zu vernehmen, und im Vorrefrain verirrte sich eine der Beiden dann gar beim Timing. Da nutzte es auch nichts mehr, dass sie zur Illustration der instrumentalen Brücke einen Doppelgänger des kroatischen Jünglings Roko samt Engelsflügeln herbeiholten und ganz zum Schluss die Windmaschine anwarfen.
Die Achtzigerjahre haben angerufen und wollen ihre Haarmode zurück: Petronela & Andreea.
Doch zurück zum fabulösen Disco-Trash: die nun wirklich zweifelsfrei dünnstimmige Sasha Letty entführte uns zurück in den ‘Summer of Love’, der bei ihr allerdings nicht geschichtlich korrekt in meinem Geburtsjahr 1967 stattfand, sondern zirka zwanzig Jahre später, jedenfalls ihrer Nummer nach zu urteilen. Die ließ nämlich die wunderbar sorglosen Zeiten von Sabrina Salerno und ihrem Urlaubsflirtkracher ‘Boys (Summertime Love)’ wieder auferstehen. Die in einer Art Lamettakleid angezogene Sasha verlegte das Setting vom sonnenbeschienenen Hotelpool in eine neondurchflutete Cocktailbar, wo sie auf dem Tresen tanzend Plastikgläser (in Moldawien scheint das Thema Umweltschutz noch nicht ganz angekommen zu sein) umstieß, während ein auf zwei Barhockern lümmelndes Chorpärchen weite Teile der Gesangsarbeit übernahm. Alles in allem eine extrem billige Darbietung. Und billig, ey, da stehe ich halt drauf.
Warum kann es nicht das ganze Jahr über Sommer sein? Sasha Letty liebt die Jahreszeit ebenfalls.
Billig ging es ebenso bei Mishel Dar zu. Kein Wunder: seine Duettpartnerin Julia Ilienko hatte sich im Stockholmer Abba-Museum das originalgetreue T‑Shirt-Kleid mit der aufgedruckten naiven Tiermalerei besorgt, das Agnetha seinerzeit beim Auftritt zu ‘Mamma Mia’ im Musikladen trug. Da blieb nicht mehr viel Geld übrig für Bühnengimmicks wie das dementsprechend aus Presspappe nachgebastelte Rummelplatz-“Auto”, in dem Mishel und seine Mannen saßen, während auf der LED-Leinwand echte Kraftfahrzeuge durch die Gegend brausten. Kein Wunder, dass da die ‘Tears’ liefen. Catarina Sandus aus griechisch-finnischer Feder stammender Beitrag ‘Die for you’ gab Rätsel auf: sollte er als Kommentar zur aktuellen Corona-Hysterie gedacht sein? Das würde zumindest erklären, warum die Interpretin und ihre beiden Begleittänzerinnen (übrigens aufgemerkt, lieber NDR: fiel euch schon auf, wie oft in diesem Bericht das Wort “Tänzer:in” vorkommt? Wenn ein bettelarmes Land wie Moldawien das stemmt, sollte Deutschland sich die doch auch leisten können, oder?) sich im Stile des mexikanischen Día de los Muertos das Gesicht mit einer kunstvoll aufgemalten Totenmaske schmückten. Schreckt bestimmt auch Viren ab!
So wird die Zombie-Apokalypse farbenfroh: Catarina Sandu macht’s vor.
Der Preis für den mit weitem Abstand geilsten Pop-Trash des Jahres, ach was: des Jahrzehntes geht unterdessen an die grandiose Dianna Rotaru und ihren erfrischend aggressiven, zweisprachigen Dance-Klopper ‘Dale dale’. In einem hoch attraktiven spanisch-rumänischen Mischmasch (“Ay me Gusta Papi Dale Dale”) pflügte sich die in einem Glitzerhoodie gekleidete Blondine durch ihre mit sexuellen Anspielungen gespickte Nummer, während ihre Tänzerinnen lasziv die Schenkel spreizten. “Eu ma simt Latina, nimeni n‑o sa ma repare!” (“Ich fühle mich wie eine Latina, niemand repariert mich”) lautete eine der Textzeilen, und es wäre tatsächlich interessant zu wissen, wo diese kulturelle Verbundenheit der Rumän:innen mit dem südamerikanischen Kontinent herrührt, die sich beispielsweise auch auf Gayromeo beobachten lässt, wo sich Migranten aus diesem Land zur Irritation deutscher Nutzer immer wieder selbst als “Latino” einstufen. Dabei muss man erwähnen, dass Frau Rotaru ihre Darbietung für das Finala Naţională bereits deutlich entschärfte: bei Auftritten im moldawischen Frühstücksfernsehen im Vorfeld der OMpE wälzte sie sich noch in Reizwäsche auf dem hell ausgeleuchteten Studioboden. Dagegen wirkte ihre Performance am Samstagabend beinahe züchtig.
Silberfolie gab’s wohl gerade günstig: Dianna Rotaru.
So oder so: Moldawien rockt! Warum sogenannte Grand-Prix-Fans noch immer in Massen das sterbensöde, glattgebügelte Melodifestivalen verfolgen, während TRM Jahr für Jahr ein nur von wenigen, erlesenen Connaisseuren wertgeschätztes Feuerwerk der Ethno-Disco abbrennt, will mir einfach nicht in den Kopf. Gut, das Format hat seine Längen: nach jeweils drei Schlag auf Schlag über den Sender gejagten Songs geht es stets erst mal für mindestens eine Viertelstunde zum Schnattern in den Greenroom (hier: Camera Verde). Und da die Juror:innen für das Einsammeln der Bestechungsgelder, Verzeihung: für das sorgfältige Ranken der Wettbewerbsbeiträge immer weit über eine Stunde benötigen, darf der jeweilige Stargast des Abends (heuer: Natalia Barbu) im Pausenprogramm jeweils ihr komplettes Œuvre, einschließlich sämtlicher Albumfülltitel und unveröffentlichter Lieder, vorstellen. Das kann sich zugegebenermaßen schon mal ein wenig ziehen. Aber dafür entschädigen die Beiträge und Darbietungen über alle Maßen. Und nur, wer weiß, was bei der OMpE alles auf der Strecke blieb, kann meinen Schmerz über den tatsächlichen Siegertitel teilen. Was mich zur Eingangsforderung zurückbringt: ins ‘Prison’ mit dem Schummler!
Wer die O Melodi pentru Europa in voller Länge erleben möchte: hier sind drei Stunden beste Samstagabendunterhaltung am Stück. Enjoy!
Vorentscheid MD 2020
O Melodie pentru Europa. Samstag, 29. Februar 2020, aus dem TRM Studio in Chisinau, Moldawien. 19 Teilnehmer:innen. Moderation:# | Interpreten | Songtitel | Anrufe | Jury | Platz |
---|---|---|---|---|---|
01 | Denis Midione | Like a Champion | 117 | 00 | 20 |
02 | Natalia Gordienko | Prison | 3.022 | 64 | 01 |
03 | Geta Burlacu | Răspunde! | 7 | – | 16 |
04 | Viorela Moraru | Remedy | 46 | 00 | 17 |
05 | Valentin Uzun + Irina Kovalsky | Moldovița | 629 | 09 | 09 |
06 | Lavinia Rusu | Touch | 130 | 38 | 07 |
07 | Dima Jelezoglu | Do it slow | 343 | 03 | 11 |
08 | Dianna Rotaru | Dale dale | 99 | 42 | 06 |
09 | Pasha Parfeny | My Wine | 1.617 | 60 | 02 |
10 | Live Beat | Love me now | 96 | 15 | 12 |
11 | Valeria Pașa | It’s Time | 500 | 27 | 05 |
12 | Maria Ciolac | Our Home | 82 | 00 | 19 |
13 | Sasha Letty | Summer of Love | 37 | 00 | 18 |
14 | Irina Kit | Chain Reaction | 73 | 10 | 14 |
15 | Petronela Donciu + Andreea Portărescu | We will be Legends | 240 | 13 | 10 |
16 | Lanjeron | Hi Five | 154 | 38 | 08 |
17 | Julia Ilienko + Mishel Dar | Tears | 229 | 07 | 13 |
18 | Catarina Sandu | Die for you | 824 | 31 | 04 |
19 | Alexandru Cibotaru | Cine te‑a facut să plîngi | 43 | 02 | 15 |
20 | Maxim Zavidia | Take Control | 650 | 47 | 03 |
Oh Moldawien, der ganz große Kracher war nicht dabei (Big Brother ist ja aufgrund stimmlicher Schwächen bereits im VE gescheitert), aber so viele gute Laune Songs wie sonst nirgends!
Ich möchte gerne die wunderbare Auflistung des Hausherren noch um die Gruppe Live Beat ergänzen, bei der sich 2 Hostessen um die Liebe eines knuffigen Rappers streiten.
Die Doppelgänger von DoReDos sozusagen, nur invers. 😉
Es sind Artikel wie diese, die diesen ESC-Blog einfach ausmachen und die mich immer wieder hier her führen. Viele andere Fan-Blogs sind mir mittlerweile zu pseudo-professionell, manchmal zu mäkelig und nehmen vor allen Dingen das ganze zu bierernst – viele Fans und Zuschauer scheinen inzwischen das Leistungsprinzip der Generation Castingshow verinnerlicht zu haben und dies auch auf den ESC anzuwenden – was man den Beiträgen dann auch leider anhört.
Daher schön, dass es noch einen Ort für Fans mit einem Herz für das Campe, Tragische und Obskure gibt – und das Schöne: zwischen all dem beißenden Spott des Hausherren schimmert doch immer wieder eine liebevolle Zuneigung durch.
Was wäre der Contest ohne das engagierte Zutun von Kultfiguren wie Sasha Bognibov und OMPE-Legende Tudor Bumbac? Auf jeden Fall viel langweiliger. 😉
Da die Gouvernante am Samstagabend Ausgang hat, trägt sie ihr Haar offen. Leider kann sie sich auch in ihrer Freizeit nicht wirklich fallenlassen und besingt, wie schön es die Kinderchen unter ihrer Fuchtel haben.
Kann aber auch sein, Madame ist gerade arbeitslos und das ist die Bewerbung wie sich Natalia potentiellen solventen Arbeitgebern andient, indem sie ihren Erziehungsstil beschreibt. So genau weiß ich das nicht.
Oh, der kleine Haremsboy Dima. Da fehlen einem echt die Worte. Ich habe die ganze Zeit gewartet, dass da jetzt der Sultan um die Ecke kommt. 😀