Und erneut, wie schon im Vorjahr: so viel Aufwand – und so ein vorhersagbares, enttäuschendes Ergebnis! Ein fünfteiliges Vorauswahlverfahren unter Einbeziehung des Internets, des Radios, des Fernsehens, des Televotings und der Jury leistete sich die Eidgenossenschaft, um ihren Beitrag für Baku zu finden. Und schon der Versuch, die Abläufe zu erklären, kommt einer Doktorarbeit nahe. Wollen wir es dennoch versuchen: als allererstes eröffnete das deutschsprachige Schweizer Fernsehen SF am 1. September 2011 erneut eine Internetplattform, auf der die Mühseligen und Beladenen aus aller Welt einen ganzen Monat lang ihre Songs hochladen konnten. 221 Vorschläge kamen zusammen, darunter natürlich jede Menge allerschrecklichster und manch ganz entzückender Trash, den das jeweils hälftig per Internetabstimmung entscheidungsberechtigte Publikum sowie eine Senderjury natürlich samt und sonders heraussiebte und wegwarf. Zu den prominenteren Zurückgewiesenen zählten dabei die dänische ESC-Dragqueen DQ, die Ende der Neunzigerjahre kurzzeitig weltweit erfolgreiche US-amerikanische House-Interpretin Ultra Naté, die Deutschland-sucht-den-Superstar-Teilnehmerin Zazou Mall sowie die britischen X‑Factor-Contestants Same Difference und Maria Lawson.
Die Playlist mit den verfügbaren Beiträgen (teils als Audio) zum Durchskippen.
In das am 10. Dezember 2011 wiederum in der Kreuzlinger Bodensee-Arena veranstaltete und erneut von Sven Epinay moderierte Finale der Großen Entscheidungsshow 2012 kam stattdessen eine echte Grand-Prix-Legende: die zu diesem Zeitpunkt bereits 87jährige Lys Assia, die erste helvetische Eurovisionsvertreterin (und Siegerin) von 1956. Die hatte sich vom deutschen Serienschreiber Ralph Siegel eine extrem altmodische Final-Curtain-Ballade mit dem passenden Titel ‘C’était ma Vie’ (‘Das war mein Leben’) komponieren lassen, welche die greise Grande Dame des Grand Prix mit der ihr noch immer innewohnenden Grandezza, wenngleich auch mit einer zwischenzeitlich etwas brüchigen Stimme vorhauchte. Und sich hinterher in der Presse erboste, weil der in lediglich kommentierender Funktion der Show beiwohnende Punkrocker Stämpf ihren Song als “Musik für die Kaffeefahrt” herabwürdigte und – viel schlimmer noch! – sich gar erdreistete, ihr das Du anzubieten. Was Lys in der Sendung zwar mit gequältem Lächeln annahm, bereits im Aftershow-Interview jedoch als “flegelhaft” geißelte. Schließlich lautete, wie jedes Kind weiß, die einzige ihr gebührende Anrede “Eure königliche Hoheit”!
She did it her Way: die große Lys Assia.
Neben Lys zogen noch weitere fünf deutschschweizerische Kandidat:innen ins Finale ein. Die Stimme der Sängerin Emel Aykanat kannte man bereits von etlichen Eurodance-Hits des vormaligen helvetischen Vertreters DJ Bobo, aber auch als Chorsängerin bei Sabrina Setlurs größtem Erfolg ‘Du liebst mich nicht’. Und vom Eurovision Song Contest von Istanbul, wo sie als helvetische Punktesprecherin im Einsatz war. Ihr Titel ‘She’ wusste als treibender Popsong mit hübschen orientalischen Verzierungen zu gefallen. I Quattro waren ein (*würg*) Popera-Quartett. Der gebürtige Baseler Ivo Sidler hatte mit radiotauglichem Poprockgedudel Anfang der Zweitausender einige Erfolge in den heimischen Airplay- und Singlecharts und versuchte sich hier mit dem grandprixesk-ausgelutschten Thema ‘Peace & Freedom’ an einem Comeback. Welches ihm trotz eines zweiten Platzes in der Abstimmung nicht gelingen sollte. Keinen bleibenden Eindruck hinterließen die mittlerweile aufgelöste Band Macy und der Hobbykünstler Raphael Jeger, der es später ebenfalls erfolglos bei The Voice versuchen sollte und mittlerweile ein eigenes digitales Medienunternehmen leitet. ‘The Song in my Head’ hätte mal besser nicht den Weg heraus in die Öffentlichkeit gefunden.
Hören wir denn schon Stimmen? Wie Joan d’Arc? Der Jeger.
Daneben durfte auch noch die Musikredaktion der Schweizer Popwelle DRS3 drei weitere Beiträge herauspicken. Wenig überraschend entschieden sich die Radiomacher:innen für gleichermaßen kantenlose, dudelfunktaugliche Seichrocksongs. Und griffen mit dem Stück ‘Lost’ von Sara Birchler alias Sara McLoud, die noch lange Jahre fleißig Alben im Eigenverlag herausbringen sollte, gleich mal ins Klo: die “Aarauer Rockröhre” hatte den Song bereits 2009 auf ihrem Youtube-Kanal veröffentlicht. Die folgende Disqualifikation traf die Sängerin hart: “Ich habe im Zimmer geweint,” vertraute sie 2016 der Aargauer Zeitung an. Nachrücken durfte die aus zwei auf den Philippinen geborenen Schwestern und ihrer Freundin bestehende Girlgroup Atomic Angels. Am peppigsten (im Sinne von: am wenigsten einschläfernd) präsentierte sich der auch optisch ganz ansprechende, spanischstämmige Guillermo Sorya, der im Sommer 2011 mit der Coverversion eines mundartlichen Schweizer Quatschschlagers einen kleinen Hit hatte und der heute als Gesangslehrer arbeitet. Schließlich gab es noch die Siegerin der dritten Staffel der Schweizer Castingshow MusicStar von 2007, Fabienne Louves, und den Musicalsänger Patric Scott Kaiser, die mit ‘Real Love’ eine originalgetreu nachgebaute Eins-zu-Eins-Kopie des aserbaidschanischen Vorjahressiegerduettes ‘Running Scared’ von Ell & Nikki darboten.
Aseptisch dampfgestrahlte Latino-Leidenschaft: Guillermo Sorya.
Auch das französischsprachige RTS richtete eine eigene Internetplattform ein, über die allerdings nur magere 27 Bewerbungen eintrudelten. Zehn davon stellte der Sender auf seinen Radio- und TV-Wellen vor, und drei davon schafften es per Internetvoting und Juryabstimmung ins Finale. Unter dem Suchbegriff Katherine St-Laurent spuckt das Netz eine kanadische Serienschauspielerin aus sowie die Stabschefin von Ex-Prinz Harry und der für ihr gesundes Haar bekannten Meghan Markle. Nichts findet sich hingegen über die gleichnamige Interpretin des Popchansons ‘Wrong to let you go’, augenscheinlich die einzige Veröffentlichung der Sängerin. Den etwas harschen letzten Platz in der Entscheidungsshow für das irgendwie hübsche ‘Quand je ferme les Yeux’ belegte das aus Sophie Rochat und Xavier Coenegracht bestehende Duo Sosoflou. Das Interesse am ‘L’Autre’, am Anderen, wollte die Band Ze Flying Zézettes Orchestra wecken. Das bestand in ihrem Fall aus einer etwas schwachbrüstigen Mélange aus Chanson‑, Zigan- und orientalischen Klängen. Und einem Frontmann, der die Hälfte der Zeit stur an der Kamera vorbei schaute und die andere Hälfte mit dem irren Blick eines Serienmörders in die Linse stierte.
So hässlich war der Xavier nun aber auch nicht, dass Sophie immer die Augen schließen musste!
Der italienischsprachige Sender RSI erhielt gar nur 22 Einsendungen, aus denen eine Jury fünf Titel für den am 8. November 2011 als Live-TV-Sendung abgehaltenen Eurosong auswählte. Von den restlichen 17 Bewerber:innen qualifizierten sich zwei weitere per Internetabstimmung für die Show. Unter diesen sieben Liedern durften sich die Zuschauer:innen dann für zwei entscheiden, die das Tessin ins Finale am Bodensee schickte. Das waren zum einen Chiara Dubey, deren Musik laut dem Klassik-Radiosender hr2 “jede Menge Wärme” ausstrahle, “Kontemplation und Inspiration” biete und “sich irgendwo zwischen neuer Klassik, Alternative Pop und meditativen Klängen” bewege. Mit anderen Worte: sachtes Esoterik-Gedudel. Und dann waren da noch die aus Locarno stammenden Brüder Gabriel und Ivan Broggini, die zusammen das Seichtrockduo SinPlus bildeten. Die hatten ihren in äußerst breiigem Englisch gesungenen Titel ‘Unbreakable’ (“Swiem ägenst ze Strimm”) sowohl in der Romandie eingereicht, wo sie es unter die letzten Zehn schafften, als eben auch zuhause im Tessin. Was früher einmal zur Disqualifikation reichte, wurde diesmal belohnt: sie zogen ins Finale und siegten dort mit weniger als 2% Vorsprung vor Ivo.
Machten einen guten Job als Haarprodukt-Models: SinPlus.
Die große Entscheidungsshow selbst gestaltete sich heuer besonders absurd: vor jedem der 14 Auftritte gab es einen neunzigsekündigen Vorstellungsfilm, direkt nach ihren aus humanitären Gründen auf lediglich zwei Minuten (!) gekürzten Beiträgen mussten die bedauernswerten Finalist:innen dem auf Schwyzerdütsch moderierenden Sven Epiney besonders sinnlose Fragen beantworten und dann, weiter verlegen auf der Bühne herumstehend, mindestens fünfminütiges (!) Gelaber der aus drei weißen heterosexuellen Cis-Männern bestehenden Sofajury über sich ergehen lassen. Ein respektloserer Umgang mit dem singenden Personal ist mir bei keinem Eurovisionsvorentscheid jemals begegnet. Die historische Chance, mit der hochbetagten, allerersten Eurovisionssiegern und ihrer retrosatten Ballade einen besonderen Moment in Baku zu erschaffen, ließen sich die Eidgenoss:innen nicht nur, wie erwartet, durch die Finger gleiten. Sie taten dies mit gerade mal 5% Anrufanteil für Lys Assia auch in unmissverständlicher Deutlichkeit. Die gerechte kosmische Strafe folgte auf dem Fuße: mit Rang 11 in der Qualifikationsrunde verpassten die beiden Brüder knapp den Einzug ins internationale Finale. Ihrer heimischen Karriere tat dies keinen Abbruch: bis 2021 erschienen von ihnen vier Alben, die sich alle gut verkauften. 2014 wurden sie bei den MTV Europe Music Awards gar als eine der besten Schweizer Bands ausgezeichnet.
Für Baku hatten SinPlus offensichtlich an ihrer Aussprache gefeilt, was ihr Englisch nur noch unglaubwürdiger klingen ließ.
Vorentscheid CH 2012
Die große Entscheidungsshow. Samstag, 10. Dezember 2011, aus der Bodensee-Arena in Kreuzlingen. 14 Teilnehmer:innen. Moderation: Sven Epiney. Televoting.# | Interpreten | Songtitel | Televote | Platz |
---|---|---|---|---|
01 | Patric Scott + Fabienne Louves | Real Love | 09,81% | 06 |
02 | Emel Aykanat | She | 01,30% | 11 |
03 | Chiara Dubey | Anima nuova | 13,82% | 03 |
04 | Guillermo Sorya | Baby Baby Baby | 01,19% | 12 |
05 | Macy | Shining | 03,49% | 09 |
06 | Sosofluo | Quand je ferme les Yeux | 01,08% | 14 |
07 | Atomic Angels | Black Symphony | 02,36% | 10 |
08 | Ivo | Peace and Freedom | 16,02% | 02 |
09 | Ze flying Zézettes Orchestra | L’Autre | 01,17% | 13 |
10 | Raphael Jeger | The Song in my Head | 05,96% | 07 |
11 | I Quattro | Fragile | 10,56% | 04 |
12 | Sinplus | Unbreakable | 17,87% | 01 |
13 | Lys Assia | C’était ma Vie | 05,46% | 08 |
14 | Katherine St-Laurent | Wrong to let you go | 09,91% | 05 |
Zuletzt aktualisiert: 03.06.2023
So schlecht ist das “Unbreakable” jetzt nicht…
Könnte fürs Finale reichen
Also ich bin mit dem Ergebnis voll zufrieden. Nicht der große Wurf, aber auch nicht der totale Reinfall. Und dass es Frau A. nicht geschafft hat, war nach dem Auftritt auch klar. Auch der allergrößte Nostalgiker müsste landsam mal kapieren, dass das 21. Jh. schon elf Jahre alt ist.
Ich kann weder mit dem schweizer Siegerlied was anfangen, noch mit dem Song von Miss Assia. Wie gut, dass es viele andere Länder gibt, und so bleibt die Hoffnung, dass es noch richtig geile Songs geben wird. Der Siegersong hört sich völlig beliebig an – schade – mal wieder ne Chance vertan.
Wir schreiben das Jahr 2011
Ich kann die Kritik am Zuschauervotum so gar nicht nachvollziehen! “Unbreakable” ist Mainstream sicher, aber gerade das soll ja hoffentlich kein Argument gegen den Song sein. Bleibt die etwas fade Performance, einverstanden; an jener zu arbeiten, dafür schenkt die Zeit Sinplus jedoch noch eine ganze Reihe an Monaten. In meinen Augen ist “Unbreakable” (vorerst) nicht der große Wurf, aber zum einen das Beste was die Schweizer VE zu bieten hatte und zum anderen immerhin Chart-kompatibel (was zugegebenermaßen umgekehrt natürlich kein Garant für Qualität ist). Und sollten die beiden Brüder vorzeitig ausscheiden, böte das wenigstens wenig Anlass zu Häme.
Bei Lys Assia hingegen assoziere ich durchaus ein wenig das Wort “Fremdschämen”. An “C’était ma vie” kann ich nichts Zeitgemäßes entdecken und leider auch nichts wirklich Anspruchsvolles. Durchkalkulierter Pathos (eben so wie man es von Herrn Siegel seit Mitte der 80er beinahe ununterbrochen gewohnt ist), der allein wegen Lys Assias umsichtiger Interpretation wesentlich abgemilderter daherkommt, als der Text allein vorsieht.
Auch wenn ich vor Frau Assia, die eigentlich per se über jeden Zweifel erhaben ist, Hochachtung habe, ob der Tatsache, dass sie sich diesem Votum noch einmal gestellt hat: Wer Lys Assias nach Baku hätte entsenden wollen, sorry, der schaut den falschen Wettbewerb!
Ja, hier hat man die Chance vertan, ESC-Geschichte zu schreiben und sich aus der Masse hervorzutun.
“Unbreakable” hat so ziemlich nichts, das die Zuschauerin oder den Zuschauer – auch bei schwacher Konkurrenz – zum Anrufen bewegen könnte. Der ausgeprägte Westakzent hilft dabei auch nicht.
Westakzent? Dieses “Swiiiem ägenst se strimm, following juhr waildest drimm” könnte auch kein Balkan-Sänger falscher singen, 😉
Doch, ich denke es gibt schon Ansatzpunkte, warum Zuschauer bei der Abstimmung für Sinplus anrufen könnten: Ein extrem eingängiger Refrain, der zusammen mit der Stimme des Sängers einen starken Erinnerungseffekt hat. Zumindest bei mir bleibt das nach nur zweimaligem Hören festkleben. Ob das reicht fürs Finale und dort für eine ordentliche Platzierung, lässt sich jetzt noch nicht sagen, weil ungewiss ist, was die anderen Länder einschicken. Ausgeschlossen finde ich das allerdings keineswegs.
Voraussetzung ist, dass am Song noch ein bisschen gefeilt wird, vor allem dar Sänger ein paar Hausaufgaben macht (Aussprache, das, was er imstande ist in den lauteren Passagen rüberzubringen auch in den etwas ruhigeren)
Lys Assia wäre für mich allenfalls als gewisser Trashfaktor interessant gewesen. Wenn ich davon absehe, kann die gute Frau Assia gerade mal in die Waagschale legen, dass sie die erste Grand Prix-Siegerin ist, das 56 Jahre her ist, im Jahre 1956 war und sie dementsprechend fast schon ein Museumsstück ist.
Das Lied selbst ist wenig überzeugend, weil ein nicht der französischen Sprache Mächtiger nie in Verbindung damit bringen würde, dass eine 87-Jährige da auf ihr Leben zurückblickt. So seicht, wie das Chanson daherkommt, müsste das Leben ohne größere Höhen und Tiefen gewesen sein. Kaum vorstellbar. Da hätte einfach mehr kommen müssen, um Interesse zu wecken. Die Grand Prix-Biographie von Lys Assia allein kann’s ja wohl nicht sein, auf die man sich stützen möchte (und gestützt hat!).
Ist jetzt nicht der große Wurf, aber doch recht eingängig.
Das mit dem schlechten Englisch könnte ein Trick sein, um sich beim Balkan-Publikum anzubiedern. *g*