Ein tödlicher Verkehrsunfall mit zahllosen Beteiligten, dessen schaurig-morbider Faszination man sich über geschlagene vier Stunden nicht zu entziehen vermochte, so lässt sich das gestrige deutsche Eurovisions-Halbfinale 2020 beschreiben. Mit welchem die ARD versuchte, trotz der seuchenbedingten Absage des offiziellen europaweiten Wettbewerbs wenigstens auf nationaler Ebene ein adäquates Ersatz-Event auf die Beine zu stellen, wofür der Senderverbund gar nicht oft genug gelobt werden kann. Grundsätzlich nicht verkehrt auch die Idee zur Zusammenarbeit mit Funk, der hauseigenen Youtube-Spielwiese, mit welcher die Öffentlich-Rechtlichen darauf reagieren, dass Zuschauer:innen unter 30 mittlerweile durch klassisches lineares Fernsehen praktisch nicht mehr zu erreichen sind. Zu Funk gehören inhaltlich so hervorragende Kanäle wie beispielsweise die Datteltäter oder das MaiLab, die auch für Menschen außerhalb der werberelevanten Zielgruppe unterhaltsam aufbereiteten Erkenntnisgewinn bereithalten. Allerdings auch eher fragwürdige Comedy-Formate wie das World Wide Wohnzimmer der Düsseldorfer Zwillinge Dennis und Benni Wolter, bereits vor ihrem Wechsel zu Funk ausgesprochen erfolgreiche Youtube-Stars.
Nur wenige Tage nach Ausstrahlung hat die ARD das deutsche ESC-Halbfinale 2020 auf Youtube wieder depubliziert. Warum zur Hölle nur schlägt mir der Sender immer wieder alle Argumente zur Verteidigung der Rundfunkgebührenpflicht mutwillig aus den Händen? Schande! Zu sehen ist es immerhin noch im WDR-Archiv, natürlich mit aufgefrischtem Ton. Hier gibt es ersatzweise die Playlist mit allen 41 Videoclips.
Und so führten die beiden ausgesprochen schmuck anzuschauenden 29jährigen nun gestern Abend durch das ursprünglich auf drei Stunden angesetzte Halbfinale, in welchem sowohl die diesjährige, hundertköpfige NDR-Auswahljury als auch die Zuschauer:innen (per Internet- und klassischem Televoting) aus den 40 ursprünglich für Rotterdam bestimmten Konkurrenzbeiträgen zu Ben Dolics ‘Violent Thing’ die zehn beliebtesten heraussuchen sollten, mit denen Barbara Schöneberger nächsten Samstag im Ersten das Ersatz-Finale bestreitet. Und sie demonstrierten auf das Schönste, dass es sich bei Youtube-Star und TV-Moderator aus gutem Grund um zwei völlig unterschiedliche Berufe handelt. Zumal, wenn es darum geht, eine Show zu präsentieren, die sich – trotz Ausstrahlung auf dem “jungen” Spartensender One – inhaltlich nun mal an eine deutlich breitere Altersgruppe richtet, bei welcher der unbekümmerte Pennälerhumor der Wolterbrüder nicht zwingend ebenso gut ankommt wie bei ihrem WWW-Kernpublikum, das sich vermutlich schwerpunktmäßig aus Fünftklässlern zusammensetzen dürfte. Hinzu trat die technische Katastrophe: trotz mehrfacher Beteuerungen in der Live-Show, man kümmere sich hinter den Kulissen um das Problem, blamierte sich das Öffentlich-Rechtliche Fernsehen der reichsten Nation Europas gestern Abend mit einer Ton- und Bildqualität, wie man sie sich noch nicht einmal in Moldawien mehr dem Publikum anzubieten getrauen würde.
Lief im Semi und läuft im Finale außer Konkurrenz: der deutsche Beitrag 2020.
Man fühlte sich in die Anfangstage des Netzes zurückversetzt: bereits beim ersten eingespielten Musikvideo hörte und sah es sich so an, als habe ein Schülerpraktikant an einem per analogem 26k-Modem ans Internet angeschlossenen Commodore C64 die Songs mit Hilfe von Napster von einer illegalen ukrainischen Filesharing-Seite heruntergeladen und spiele sie jetzt gerade über die notdürftig angeschlossenen 10-Euro-Lautsprecherboxen ab, wobei ein Klapphandy als Übertragungstechnik zum Sendezentrum dient. Peinlicherweise gelang es dem verantwortlichen Hessischen Rundfunk bis zum Ende der Sendung nicht, den Fehler zu beheben. Dieser Stress und die (anfänglich ja noch auf sympathische Weise) merkbare Aufregung der beiden Wolter-Brüder führte rasch dazu, dass sie sich vor laufenden Kameras auf Kosten der Gebührenzahler:innen mit scheinbar unbegrenzt bereitstehender Blubberbrause die Birne zulöteten, wodurch die von ihnen abgesonderten Wortschwälle nicht nur immer länger und inhaltsleerer gerieten, sondern auch dank zunehmenden Lallens immer unverständlicher. Es spricht Bände, dass sich das Zuschalten der NDR-Kommentarorenlegende Peter Urban, zuletzt wegen zunehmenden Stolperns über die eigene Zunge selbst in der Kritik, nach jedem zehnten Beitrag anfühlte wie eine Rettungsinsel im Fremdschämtsunami: wie wunderbar, wenigstens einmal pro Stunde jemandem zuhören zu können, der Ahnung hat und diese Ahnung auch in Worte kleiden kann!
Ein Gutes hatte die diesjährige ESC-Absage: ohne den weggefallenen Probewochen-Berichtsstress hätte ich niemals die Chance gehabt, dieses fantastische Format für mich zu entdecken und erstmalig live zu verfolgen. Danke dafür!
Umso erheiternder das aufgrund einer nicht rechtzeitig zugemachten Leitung zu hörende, genervte Seufzen des Grand-Prix-Grandseigneurs über das Maß an Inkompetenz, mit dem er sich hier auseinander setzen musste. Weinenden Auges dachte man an dieser Stelle an die zuvor verbrachten, hochvergnüglichen vier Abende zurück, an denen die wunderbar charmanten Alina Stiegler und Stefan Spiegel uns durch die jeweils zweistündigen Songchecks führten, in denen eine Handvoll mehr oder minder prominenter Fan-Experten mit wundervoll bissigen bzw. lobenden Kommentaren die 41 Beiträge dieses Jahres sezierten und fachgerecht einordneten. Einen der Panelisten hatte man am gestrigen Abend als Studiogast geladen, leider mit Freshtorge ausgerechnet den Verzichtbarsten der ansonsten rundheraus fabelhaften Songcheck-Crew, der bereits in diesem NDR-Format eher durch fortgesetztes Mansplaining unangenehm auffiel anstatt durch intelligente oder wenigstens witzige Kommentare. Von denen hatte er auch im World Wide Wohnzimmer keine parat, sorgte aber dennoch für amüsante Momente, als er mit fortschreitender Sendedauer jegliches Bemühen aufgab, weiter gute Miene zum bösen Spiel zu machen und auf das zunehmend hilflosere, ausufernde Gebrabbel der Wolters nur noch teilnahmslos-distanziert reagierte.
Spoiler: anstelle des versprochenen Treffens enthält das Video nur sieben Minuten mäßig lustige Selbstbeweihräucherung der Wolterbuben. Immerhin zeigen die Beiden, dass man Bartwuchs haben kann, ohne in den Stimmbruch gekommen zu sein. Auch eine Leistung!
Einen weiteren der Songcheck-Panelisten, nämlich Thomas Gottschalk, hatten die Düsseldorfer Schnittchen in einem ihrer Funk-Videos mal als ihr großes Vorbild benannt. Und das merkte man gestern Abend: ganz wie bei der Wetten-dass-Legende, deren Songcheck-Kommentare ihren herausragenden Unterhaltungswert ganz unbeabsichtigt durch ihr cringes Opa-erzählt-vom-Krieg-Feeling erlangten, kreist auch bei den Wolters das gesamte Universum nur um die eigene, selbstbesoffene Existenz. Und wie ihr Idol zu seinen besten Zeiten überzogen die twennigen Twins gestern Abend maßlos, nämlich um knapp eine Stunde. Was neben dem Alkoholkonsum daran lag, dass sie sich einfach selbst gerne reden hören, selbst wenn sie absolut nichts zu sagen haben (“Litauen: ein Geheimtipp!”, “Bei Schweden denk ich sofort an Abba”). 41 Songs in katastrophaler Soundqualität an einem unendlich langen Abend und ahnungslose Moderatoren: rückblickend betrachtet hätten sich die vierteiligen Songchecks so viel besser geeignet, die zehn Finalisten für nächsten Samstag zu bestimmen. Zumal es in diesem, diesmal leider nur im Netz gestreamten Format ebenfalls eine Zuschauer:innenabstimmung und eine Jurywahl (hier: Stiegler & Spiegel) gab.
Was wäre ein ESC-Jahrgang ohne Semifinal-Gate? Diesmal traf es die fabelhafte israelische ‘Haba Haba’-Neuauflage.
Und zumal sich die Abstimmungsergebnisse in beiden Formaten unter dem Strich wie ein Ei dem anderem glichen und bei beiden die selben Top Ten herauskamen. Mit einer – um so ärgerlicheren – Ausnahme: anstelle der putzigen Israelin Eden Ahlene und ihres allerliebsten, irgendwas zwischen fünf- und siebensprachigen Ethnodiscotitels ‘Feker Libi’ wählten die World Wide Wohnzimmer-Zuschauer:innen einen meiner zwei persönlichen Hasstitel dieses Jahrgangs weiter. Nämlich den dänischen Superseichtschleimprofen ‘Yes’ von Ben & Tan. Und damit die legitimen Nachfolger:innen von Ell & Nikki bzw. von Chanée & N’Evergreen als das unglaubwürdigste Zwangsheirats-Heteropärchen der Contestgeschichte. Einem beherzten Downvoting der beiden geschmacklich versierten Juror:innen Alina und Stefan verdankt diese Liedsülze ihren berechtigten 26. Platz im Songcheck-Gesamtvoting (Rang 14 im Zuschauer:innenvoting), während es gestern Abend für den Finaleinzug reichte. Lustig: von den üblicherweise fix fürs Finale gesetzten Big-Five-Nationen konnten sich die Deutschen nur für den italienischen Beitrag ‘Fai Rumore’ von Diodato erwärmen. Und das, obwohl es sich bei der heiser gekrähten Jammerballade um einen der schwächeren ESC-Songs des Pandemie-Hotspot-Landes der letzten Jahre handelt. Spanien, Großbritannien und Frankreich fielen unisono durch. Ein Zeichen, dass die schlechten Ergebnisse der Hauptzahlernationen doch vor allem mit deren Beiträgen zusammenhängen?
Es kostet viel Geld, so billig auszusehen wie die serbischen Powerqueens. Aber auch, wenn früher mal alle auf billig standen, ey: mittlerweile haben die Deutschen ihre Geiz-ist-geil-Phase anscheinend hinter sich.
Wenig Liebe gab es für den Balkan: lediglich Bulgarien schaffte den Finaleinzug. Am Ende aus Dankbarkeit, weil die bittersüß-eilisheske Ballade ‘Tears getting sober’ aus der selben Feder stammt wie der deutsche (und dementsprechend nicht wertungsberechtigte) Beitrag? Dafür hatten die serbischen Glitzerköniginnen der Girlgroup Hurricane ebenso das Nachsehen wie der kernige kroatische Kellner Damir Kedžo mit seiner alle Erwartungen anstandslos erfüllenden Balkanballade ‘Divlji Vjetre’ und der nordmazedonische Tangotänzer Vasil Garvanliev, der mit seiner Unentschlossenheit zwischen heißen Blicken mit dem Bartender und Eine-Armlänge-Abstand-Tänzen mit seiner Sandprinzessin wohl die Zuschauer:innen verwirrte. Immerhin lassen die von den Wolter-Brüdern gestern ohne Verkündung der Punkte verlesenen zehn Finalisten erwarten, dass es am nächsten Samstag zum spannenden Siegeszweikampf zwischen meinen beiden Lieblingsbeiträgen kommen könnte, nämlich den gleichermaßen musikalisch erfrischenden wie inhaltlich fundierten sowie herrlich unterhaltsam präsentierten “Spaßnummern” ‘On Fire’ von The Roop und ‘Think about Things’ von Daði Fryer und seiner Begleitband Gagnamagnið. Oder sollte das im Hinblick auf seinen grauenhaften Musikgeschmack gefürchtete ARD-Publikum im Finale für einen Eklat sorgen und einer der Balladen den Vorzug geben? Es bleibt spannend!
Damir Kedžo beim Wohnzimmerkonzert: Was für eine Stimmgewalt! Und den Bart bitte beibehalten, sieht noch heißer aus!
Eurovision Song Contest, deutsches Semifinale 2020
World Wide Wohnzimmer. Samstag, 09.05.2020, aus dem One-Sendestudio. 41 Teilnehmer:innen (per Musikvideo). Moderation: Benjamin und Dennis Wolter.Punkteergebnisse aus den eurovision.de-Songchecks.
Dein Tipp: wer von den zehn Finalist:innen gewinnt nächsten Samstag?
- Daði Freyr + Gagnamagnið (Think about Things) (57%, 77 Votes)
- The Roop (On Fire) (22%, 30 Votes)
- Gjon’s Tears (Répondez-moi) (5%, 7 Votes)
- Diodato (Fai Rumore) (4%, 5 Votes)
- Little Big (Uno) (4%, 5 Votes)
- Victoria Georgieva (Tears getting sober) (2%, 3 Votes)
- The Mamas (Move) (2%, 3 Votes)
- Destiny Chukunyere (All of my Love) (1%, 2 Votes)
- Efendi (Cleopatra) (1%, 2 Votes)
- Ben & Tan (Yes) (0%, 0 Votes)
Total Voters: 134
Ich denke zielgruppengerechter kann man die 41 Titel in diesen Zeiten nicht an den Mann bringen:
Songchecks für den etwas anpruchsvolleren ESC-Liebhaber mit intellektuellen Touch und gepflegter Moderation
Halbfinale für die partyaffine Webcommunity mit Dauerberieselungsanspruch und Wunsch nach unkomplizierten Graquassel zwischen den Titeln.
Beim Konsum beider Formate über Stunden bleibt bei der ESC ‑Community eine latente Aggression und Frust zurück, die sich in nörgelnden Kommentaren zeigt.
Entscheidend ist was am Ende rauskommt und das war ein wohl ziemlich ähnliches Votingergebnis.
Es war tatsächlich grauenvoll. Ich habe mich an diesem Abend sehr gesehnt nach Marlene Charell & Carolin Reiber. Im Duo hätten sie das alles als Vollprofis ganz wundervoll wegmoderiert.
Gut, dass ich Samstagabend Besseres zu tun hatte. Wobei ich mir dieses Halbfinale eh nicht angetan hätte, denn, da in diesem Jahr der ESC nicht stattfindet, reicht mir tatsächlich die Finalshow der ausgesuchten 10 Lieder.
Es ist eben 2020 kein ESC-Jahr, Versuche, irgendeinen Ersatz dafür zu generieren, sind zum Scheitern verurteilt. Bei mir zumindest.
Die Moderatoren kamen ein vor wie die Realliveversion von Beavis und Butthead, nur nicht so intelligent. Wenn Freshtorge die niveauvollste Person im Studio ist, dann sag das alles über diese You-Tube-Nasen aus. Der NDR und One sollen sich schämen so eine Scheiße versendet zu haben. Und für so was werden dann unsere Gebühren verschwendet. Man hätte ja noch über die Tölpelköpfe noch hinwegsehen können, aber das Niveau der Moderatoren schienen sich auch auf die Techniker übertragen zu haben. Der Ton war ständig scheiße, ständig gabs Probleme. Einfach nur peinlich.
Es war eine Produktion des hr, laut Sendung war die Regie wiederum in Köln. Wie dem auch sei: Es wäre wünschenswert gewesen, wenn One doch die Songchecks des NDR ausgestrahlt hätte, aber das Desaster am Samstagabend ist nicht dem NDR anzulasten. So viel Fairness muss sein, gerade im Hinblick darauf, dass das NDR-Team mit den Songchecks fantastische Arbeit mit viel Herzblut leistet.
So viel Wort und letztlich so wenig Inhalt. Dass das Ganze nicht optimal gelaufen ist, ist wohl jedem klar, ich habe aber lange in dem Artikel zumindest etwas gesucht, was Richtung Analyse gehen könnte, aber leider Fehlanzeige. Wobei ich gestehen muss, habe nur die Hälfte gelesen, es wurde irgendwann mal langweilig nur zu lesen, wie schlecht das alles war.
Für deine Verhältnisse ein enttäuschender Beitrag.
@CalX: vielen Dank für den Hinweis, ich habe es im Text eingearbeitet.
Danke für diesen Artikel. Ach, und wo ich grad dabei bin, sag ich’s gleich nochmal: Danke! 🙂
Nachtrag: Die Songchecks sind offenbar wirklich von den Kürzungen im NDR betroffen. https://twitter.com/stober_stoebert/status/1260493550078361607
@biobanane
Na, für eine Erwähnung im Spiegel vom 14.5. ist dieser Artikel offensichtlich gut genug 😉
Das Halbfinal war tatsächlich eine einzige Zumutung, dafür gibt es heute das Schmerzensgeld in Form von Live-Auftritten der zwei Leuchttürme dieses Jahrgangs, Island und Litauen!
Huiuiui, hast Du gesehen, dass Du es bis in den SPIEGEL geschafft hast?
https://www.spiegel.de/kultur/tv/eurovision-song-contest-2020-esc-ersatz-shows-von-ard-und-prosieben-a-d6edf052-01e6-4551–8e67-5ed8b6bad730